zum Hauptinhalt
William Shakespeare, getauft am 26. April 1564.
© dpa

Zum 450. Geburtstag von William Shakespeare: Krone der Schöpfung

Seine Dramen haben weder Botschaft noch Moral. Er zeigt den Menschen und die Welt so böse, wie sie sind. Darum ist Shakespeare noch immer der Größte – auch 450 Jahre nach seiner Geburt.

Er ist der meistgespielte, höchstgeschätzte und meistzitierte Dramatiker der Weltliteratur. Sein genaues Geburtsdatum ist unbekannt. Getauft wurde er am 26. April 1564 in Stratford-upon-Avon. Auf deutschen Bühnen lässt er zweihundert Jahre jüngere heimische Klassiker alt aussehen. Dabei kommt das Poetische seiner Kunst bei uns nur mit Einschränkungen zur Geltung, vom Glanz seiner Sprache geht in der Übersetzung das Beste verloren. Heutige Inszenierungen seiner Stücke auf deutschen Bühnen vermitteln durchaus den Eindruck, dass dem Publikum etwas gesagt werden soll – doch es ist das, was der Regisseur sagen will, nicht das, worum es in den Stücken geht.

Von Goethe, Schiller, Lessing, von der deutschen Klassik sind wir gewohnt, dass sie uns moralische Einsichten vermitteln. Das ist bei William Shakespeare anders. In seinen Stücken gibt es zwar ein Wertesystem, an dem er sich erkennbar orientiert, doch seine Wertungen sind so widersprüchlich, dass Leser und Zuschauer den Eindruck gewinnen, als sage er Ja und Nein zur gleichen Zeit.

Betrachtet man seine Werke aus der Distanz, ist leicht zu erkennen, dass sie allesamt dem gleichen Schema folgen: Sie beginnen mit einer Störung der gesellschaftlichen und moralischen Ordnung, die sich zur Krise zugespitzt, bis die Ordnung entweder tragisch durch Eliminierung des Störers oder komisch durch dessen Bestrafung oder Bekehrung wiederhergestellt ist. Ordnung ist bei Shakespeare als Rangordnung zu verstehen. Sein Wort dafür ist degree.

Sonderfall Hamlet: Hier ist es nicht der Held, der die Welt erschüttert. Im Gegenteil, er muss die Ordnung wiederherstellen

Im Zentrum aller seiner Stücke steht der Widerstreit von Vernunft und Leidenschaft. So wird Macbeth durch seinen Ehrgeiz zunächst zum bewunderten Kriegshelden und danach zum Königsmörder. Bei Othello schlägt die Liebe eines anfangs sehr besonnenen Mannes in mörderische Eifersucht um, worauf er sich selbst als einen bezeichnet, der „nicht weise, sondern zu sehr geliebt hat“. König Lear verschenkt aus vernünftig erscheinenden Gründen großmütig sein Reich an seine Töchter, doch als Cordelia ihm nicht mit der gleichen Heuchelei dankt wie ihre Schwestern, schlägt seine Großmut aus gekränkter Eitelkeit in Jähzorn um.

Wo übermäßige Leidenschaft die Ordnung durchbricht, gerät alles „aus den Fugen“. Das Zitat stammt aus „Hamlet“, einem Stück, das unter Shakespeares Tragödien eine Sonderstellung einnimmt. In den anderen sind es die Helden, die die Ordnung erschüttern, während Hamlet mit einer Welt konfrontiert ist, deren Ordnung durch den Mord an seinem Vater bereits erschüttert ist, so dass er sich vor der Aufgabe sieht, sie wieder herzustellen: „Die Zeit ist aus den Fugen, weh, zu denken, / dass ich geboren ward, sie einzurenken“. Seine tragische Schuld, wenn man es so nennen will, besteht darin, dass er die ihm vom Geist seines Vaters aufgetragene Rachetat nicht ausführt. Im Stück selber wird die Ursache dafür unmissverständlich aufgezeigt. Hamlet kann die Rachetat nicht vollbringen, weil er sie allzu perfekt ausführen will. Als er den Mörder seines Vaters beim Gebet überrascht, steht er mit gezücktem Schwert hinter ihm, steckt die Waffe aber wieder ein, weil er fürchtet, den durchs Gebet gereinigten Schuldigen in den Himmel statt in die Hölle zu schicken.

Prinz Hamlet ist ein vernunftgeleiteter Perfektionist, doch ihm fehlt die zum Handeln erforderliche Leidenschaft, was er selbst ausdrücklich beklagt. In Shakespeares Werk scheint überall die mittelalterliche Vorstellung vom Mikrokosmos durch, die im Innern des Menschen eine Hierarchie von Hirn, Herz und Leber sah, wobei diesen Organen die Vernunft, die edlen und die niederen Leidenschaften entsprechend zugeordnet wurden. In „Hamlet“ wird dies systematisch ausbuchstabiert. Horatio steht für die reine, tatenlose Vernunft, Fortinbras für die unvernünftige, doch ehrenhafte Leidenschaft des Herzens und Claudius für die ehrlose Gier, die aus der Leber kommt. Hamlet schwankt zwischen Hirn und Herz, Laertes zwischen Herz und Leber.

Kann eine so krude Psychologie für moderne Menschen überhaupt noch von Interesse sein? Sie kann es, wenn man sieht, wie dieses Schema sich aufzulösen beginnt. Bei Shakespeare haben wir es einerseits noch mit der mittelalterlichen Stufenleiter zu tun, auf der der Mensch mit seinen Leidenschaften zum Reich der Tiere und mit seiner Vernunft zu dem der Engel gehört. Andererseits sieht Shakespeare schon, dem Geist der Renaissance entsprechend, die beiden Hälften auf gleicher Höhe: die moralische Forderung der Vernunft auf der einen Seite und den charismatischen Wert der persönlichen Ehre, der die Leidenschaft des Herzens braucht, auf der anderen.

Das macht seine Helden frei und unfrei zugleich. Sie sind ihren Leidenschaften ausgesetzt, durch die sie Ranghöhe erlangen, und sind doch frei, dem Gebot der Vernunft zu folgen, die die Kontrolle dieser Leidenschaften verlangt.

In Shakespeares Epoche führte der Kampf der Sinne gegen die Vernunft noch zur Katastrophe

William Shakespeare, getauft am 26. April 1564.
William Shakespeare, getauft am 26. April 1564.
© dpa

Als Herold der Neuzeit steht Shakespeare am Beginn der europäischen Aufklärung. Bei ihm führt der Aufstand der sinnlichen Leidenschaft gegen das Vernunftgebot noch zu tragischen Katastrophen. Knapp hundert Jahre nach ihm ist die alte Hierarchie bereits vollständig horizontalisiert. Bei John Locke, dem Begründer des englischen Empirismus, stehen die Sinne und die Vernunft auf einer Ebene. Ohne sinnliche Wahrnehmung ist die Vernunft leer, ohne Vernunft sind die Sinne blind. An die Stelle des tragischen Bruchs tritt jetzt der ausgehandelte Kompromiss. Der politische Ort dafür ist das Parlament, das sich in der „Glorious Revolution“ von 1689 endgültig durchsetzte. Von Shakespeares hierarchischer Weltsicht trennen uns einige Revolutionen: von der Französischen bis zu den verunglückten deutschen. Unser Denken ist durchgängig horizontal geprägt. Interessenausgleich, Toleranz und parlamentarische Repräsentation unterschiedlicher Meinungen zwischen rechts und links verlangen nach Kompromissen.

In Shakespeares Tragödien verstoßen die charismatischen, kompromissunfähigen Helden gegen die Ordnung und stürzen, worauf an ihre Stelle kompromissbereite, moderne Pragmatiker treten, die ohne Charisma mit jenem Common Sense agieren, der bald darauf zum sprichwörtlichen Organ der englischen Aufklärung wird. Als noch moderner wird man aber die Komödien empfinden, in denen die Lösungen aus einer Position der Schwäche heraus von gewitzten Frauen herbeigeführt werden.

Shakespeare veraltet nicht - wegen seiner "negativen Fähigkeit": Er hält Ungewissheit und Rätsel aus

Unsere horizontale Weltsicht billigt jedem Menschen gleiches Recht zu. Doch wenn es ans Werten geht, kommen wir nicht umhin, vertikale Entscheidungen zu treffen, denn Wertordnungen sind nun einmal hierarchisch gestuft. Hier erwarten wir eindeutige Entscheidungen. Wenn sich Russland und die Ukraine um die Krim streiten, sehen wir eine Seite im Recht, die andere im Unrecht. Bei Shakespeare gibt es solche Eindeutigkeiten nicht. In „Julius Caesar“ haben alle vier Hauptakteure Positives und Negatives: Caesar besitzt ordnungsstiftendes Charisma, ist aber machthungrig; Brutus steht für republikanisches Ethos, handelt aber taktisch unklug; Antonius ist ein brillanter Redner und zugleich ein ehrgeiziger Opportunist, und Cassius ist ein kühler Pragmatiker, der sich dennoch von Neidgefühlen leiten lässt.

Shakespeares Kosmos ist eine zwischen Vernunft und Leidenschaft gespaltene Welt, in der die Natur Gutes und Böses hervorbringt. Darüber sieht er zwar ein harmonisch geordnetes Firmament, doch das garantiert keine Auflösung der Spaltung auf der Erde. Niemand hat Shakespeares ambivalente Weltsicht auf eine so prägnante und darum oft zitierte Formel gebracht wie der englische Dichter John Keats, der dem Elisabethaner eine „negative Fähigkeit“ attestiert, die darin bestehe, dass er „Ungewissheiten, Mysterien und Zweifel aushielt, ohne irritiert nach Vernunftgründen und Fakten zu suchen“.

Diese Fähigkeit, in Widersprüchen ein Sowohl-als-auch zu sehen, statt sich für das Entweder-oder zu entscheiden, ist das, was seinen Werken ihre dauerhafte Aktualität verleiht. Darüber hinaus gibt es noch etwas, das aus seiner hierarchischen Welt in unsere Zeit hineinreicht. Mag die heutige Trivialkultur „platt wie ein Trottoir“ sein – mit diesen Worten beschreibt Flaubert die geistige Welt von Monsieur Bovary –, so schauen wir doch zurück auf eine Kultur, in der es immer um Ranghöhe ging.

Jahrtausendelang versuchte jeder Künstler, besser als die Vorgänger zu sein. Shakespeare wird seinen Spitzenplatz in dieser Hierarchie noch lange behalten, da er die Konkurrenz nicht nur durch sein poetisches Können übertrifft, sondern dank seiner „negativen Fähigkeit“ auch nicht veraltet. Wertordnungen können sich wandeln, doch das, worauf sie sich beziehen, sind die Grundbefindlichkeiten des Menschen, die sich jedem eindeutigen und endgültigen Werturteil entziehen. Dieses Ewigmenschliche zeigte bisher niemand so umfassend und differenziert wie dieser Dichter.

Der Autor ist emeritierter Professor für Englische Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm „William Shakespeare in seiner Zeit“, C. H. Beck Verlag.

Hans-Dieter Gelfert

Zur Startseite