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Fernblick. Auf der 1899 erbauten Hobrechtbrücke zwischen Friedel- und Ohlauer Straße halten Berliner und Touristen gern inne und schauen auf’s Wasser.
© Mike Wolff

Berliner Brücken (5): Kreuzköllner Kuddelmuddel: Die Hobrechtbrücke

Klempner und Künstler: Auf der Hobrechtbrücke überm Landwehrkanal pausieren die Nachbarn klassenlos.

Der Kreuzberger wie der Neuköllner Brückensteher ist ein Mensch der schöpferischen Pause. Kurz mal die Einkäufe abstellen und ins Wasser blicken: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Auf jeden Fall ist Zeit genug, die Sonne über dem Landwehrkanal untergehen zu sehen. Auf die Liebste zu warten. Die Schwäne zu betrachten. Zu zweit oder zu viert ein Bierchen zu trinken, bevor man weiter um die Häuser zieht. Für solche Pausen ist das Übergangsphänomen Brücke da, die Hobrechtbrücke ganz besonders.

Und wie begann das alles? Vor 120 Jahren verband an dieser Stelle eine Personenfähre die beiden Ufer des Landwehrkanals, über den die wachsende Industriestadt beliefert wurde. An seinen Ufern zogen sich die Lagerplätze für Hölzer und andere Baumaterialien hin. Die Bauern des Umlands boten hier Obst und Früchte an, wie es heute noch die Händler des „Türkenmarktes“ am Maybachufer tun.

Erinnerung an den preußischen Stadtplaner James Hobrecht

In den Jahren 1899 und 1900 wurde die Brücke gebaut, sie hieß damals noch Grünauer Brücke. 1945 wurde sie in den letzten Kriegstagen von der deutschen Wehrmacht gesprengt, 1954/55 wieder aufgebaut und benannt nach James Hobrecht. Hobrecht – das war noch mal wer? Ein genialer Berliner, zugewandert wie die meisten, aus Litauen in diesem Fall. Als Regierungsbaumeister entwickelte er die Basis des Verkehrsnetzes der Hauptstadt und entwarf 1869 die Kanalisation für Berlin in zwölf Radialsystemen. Dadurch wurde Berlin zur Stadt mit der modernsten Entwässerung und damit zu einer der saubersten der Welt.

In seiner Funktion als Stadtbaurat galt Hobrecht als Befürworter der Mietskaserne, auch wenn er stets forderte, den Gebäuden „mehr Luft und mehr Licht“ zu geben: „Fort mit den Kellerwohnungen, die gut sind für Fässer und Kartoffeln, aber nicht für Menschen! Raum für die Höfe!“ Er war ein Sozialromantiker, der für die Mietshäuser „das empfehlenswerte Durcheinanderwohnen“ der gesellschaftlichen Schichten wünschte. „Das Sehen und Kennenlernen, die Berührung mit der Armut und der Unbemitteltheit in allen Abstufungen ist für den Reichen und Wohlhabenden eine sittliche Schule. Hier ein Teller Suppe zur Stärkung bei Krankheit, da ein Kleidungsstück, dort die wirksame Hilfe, welche ihren veredelnden Einfluss auf den Geber ausübt.“ Jedoch wollten nur wenige Wohlhabende sich einem solchen veredelnden Einfluss aussetzen; die Lebensverhältnisse in Kreuzberg wie in Neukölln blieben prekär.

Heute gehört die Gegend um die Hobrechtbrücke der künstlerischen Bohème. Stehen vier Leute auf der Brücke, kann man sicher sein, dass zwei von ihnen Musiker, Schriftsteller, Übersetzer oder Radiokünstler sind. Die Hipster, die seit einigen Jahren auf der Neuköllner Seite ansässig sind, machen selbstredend „irgendwas mit Medien“. Das lässt ihnen genug Zeit, sich an sonnigen Abenden dekorativ auf den Gehwegen der Hobrechtbrücke zu lagern und auf der Gitarre zu klampfen.

Die Musiker haben einen Urahnen, der dem Ufer auf Kreuzberger Seite seinen Namen gibt: Paul Lincke. Was Johann Strauß für Wien und Jacques Offenbach für Paris waren, das war der Kreuzberger Kapellmeister für Berlin. Er brachte das Publikum der Weltstadt zum Tanzen und Singen. Seine Berliner Operette („Frau Luna“, um nur die bekannteste zu nennen) war deftig und volksnah, sie verpasste dem preußischen Militärmarsch ein ironisches Augenzwinkern.

Paul Lincke, der jahrzehntelang in der Oranienstraße wohnte, starb 1946. 1956 wurde das damalige Kottbusser Ufer in Lincke-Ufer umbenannt, zehn Jahre später vervollständigt zu Paul-Lincke-Ufer. Das Lokal „Grigri“ hinter dem Boule-Platz erinnert an eine seiner Operetten, und jeder Berliner, der was auf sich hält, kann heute noch Linckes „Berliner Luft“ pfeifen. Musik liegt hier auch jetzt in der Luft. Im Hinterhof des Paul-Lincke-Ufers 44 sitzt der legendäre Plattenladen Hard Wax, der seit Beginn des Techno die DJs mit guter Musik versorgt.

Eine wahre „Kathedrale der Elektrizität“ ist das monumentale Umspannwerk der Bewag an der Ecke Ohlauer Straße. 1926-28 nach Plänen des Architekten Hans Heinrich Müller in expressionistischer Backsteinstrenge gebaut, wurde es 1989 stillgelegt und gründlich saniert. Mittlerweile werden hier Empfänge und Essen der oberen Zehntausend zelebriert, so dass auch die Kreuzköllner gelegentlich den Hauch der großen Welt in ihrem Kiez spüren.

Kopfläuse entfernen an der Desinfektionsanstalt

Gleich daneben steht die erste städtische Desinfektionsanstalt Berlins, in der seit 1886 Infektionskrankheiten und Ungezieferplagen bekämpft wurden. Durch Kriege, Armut, Mangelernährung waren Infektionskrankheiten ein ständiges Problem, ebenso das Ungeziefer, das die Einwohner heimsuchte. „Öffnen Sie Ihr Ohr einem tausendfältig unterdrückten Leidensschrei des Berliners!“, heißt es in einem offenen Brief von 1927. „Sprechen wir es einmal aus: Berlin ist eine total verwanzte Stadt!“ Noch bis 1986 konnte man hier in der „Desinfektionsanstalt I“ unangemeldet zu einer Kopflausbehandlung erscheinen.

Der besondere Charme dieser Gegend liegt in den zahllosen kleinen Geschäften und Lokalen, die mit störrischem Eigensinn die Jahrzehnte überdauert haben oder mit neuem Mut eine Existenzgründung wagen. Auf Kreuzberger Seite halten im „Café 49“ und im „Café Kreuzberg“ die alteingesessenen Kneipengänger die Stellung, während drüben ein neues Lokal nach dem anderen aufmacht. Die ganze Friedelstraße ist ein Experimentierfeld des erasmus-studentischen Wohllebens, vom Eisladen „Fräulein Frost“ über diverse Nachmittagscafés bis hin zur Bar „Kinski“. Dazwischen finden sich aber auch noch waschechte Neuköllner Klempner und Trödler mit Kisten aus Wohnungsauflösungen. Relativ neu sind dagegen zwei Buchhandlungen: In der Bürknerstraße die „Stadtlichter“, drüben in der Ohlauer das „Leseglück“.

Das größte Glück aber ist der Landwehrkanal. An seinen Ufern lassen sie alle, Kreuzberger und Neuköllner, Touristen und Eingeborene, in den Sommernächten die Beine und die Seele baumeln. Boote fahren vorbei, Boulekugeln klacken. Wenn es den Landwehrkanal nicht gäbe, man müsste ihn erfinden, und die Hobrechtbrücke gleich dazu.

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