Graphic Novel: Körperwelten
Der Schmerz der anderen Seite: Nine Antico geht in „Coney Island Baby“ am Beispiel von zwei Erotik-Ikonen den Mechanismen der Sexindustrie auf den Grund - aufklärerisch, vielschichtig und trotz einiger Schwächen überzeugend.
Die Auswirkungen kommerzialisierter Sexualität auf ihre Konsumenten wurden in Comics schon häufiger thematisiert. Chester Browns „The Playboy“ (USA 1991, dt. unter dem Titel „Die Playboy-Stories“ 1992 bei Jochen Enterprises) und Joe Matts „The Poor Bastard“ (USA 1997, dt. 2007 als „Peepshow” in der Edition 52) bieten erhellende Blicke in diesen Themenkomplex. Am Beispiel ihrer eigenen Biografien zeigen beide Autoren, wie übermäßiger Konsum von Produkten wie Pornos oder Sex-Magazinen zu neurotisch-obsessivem Verhalten führen kann. Bei aller enthaltenen Kritik an der Kapitalisierung des Körpers legen sie aber vor allem schonungslos ihre eigenen Erfahrungen bis an die Grenze schmerzhafter Peinlichkeit bloß – wie es Chester Brown erneut jüngst in seinem im Mai erschienenen Buch „Paying For It“ getan hat (mehr dazu hier).
Der Schmerz der anderen Seite, nämlich derjenigen, die in der Pornofilm- oder Herrenmagazin-Branche arbeiten, wird in Warren Ellis´ und J.H. Williams´ III „Desolation Jones“ # 3 (USA 2005, auf Deutsch in „Desolation Jones – Made In England“, 2007 bei Panini) dargestellt. Die perfekte Anwendung der dem Medium zur Verfügung stehenden dramaturgischen Mittel zeigt sich in einer siebenseitigen Sequenz, in der eine Pornofilmdarstellerin über ihren Arbeitsalltag berichtet. Diese lässt nicht nur die Titelfigur betroffen zurück.
Auch die junge französische Comickünstlerin Nine Antico wendet sich in ihrem Werk „Coney Island Baby“ (Frankreich 2010, unter demselben Titel jetzt auf Deutsch in der Edition Moderne erschienen) den Arbeitsbedingungen in der nordamerikanischen Sex-Industrie zu. Sie versucht im Rahmen eines zeitgeschichtlichen Bildes, die Folgen der fortschreitenden Kommerzialisierung in dieser Branche und deren Auswirkungen auf die in ihr Tätigen zu zeigen. Dies geschieht an Hand der Biografien von Bettie Page, einem Nacktfoto-Modell der 1950er Jahre, die auch durch Bondage-Szenarien von sich reden machte, und Linda Lovelace, die maßgeblich wegen ihrer Hauptrolle im Pornofilm „Deep Throat“ (USA 1972) berühmt wurde.
Als Erzähler der Geschichte fungiert Hugh Hefner, Gründer und langjähriger Herausgeber des amerikanischen „Playboy-Magazines“. Er und sein Magazin stehen wie der Film „Deep Throat“ für eine vermeintliche Liberalisierung der prüden Verhältnisse innerhalb der nordamerikanischen Kultur.
Inspiriert von Lou Reeds „The Gift“
Bei der Charakterisierung der Figur mag Antico die einzige, immer wiederholte Text-Zeile des Lou-Reed-Songs „The Gift“ inspiriert haben: „I´m just a gift to the women of this world“. Hefner wird in derselben selbstüberheblichen und gönnerhaften Weise dargestellt, in der Lou Reed seinen Songtext intoniert. Dieser findet sich auf seinem 1976er Album „Coney Island Baby“, dem der Reed-Fan Antico auch den Titel ihres Comics entliehen hat.
In einer Rahmenhandlung bewerben sich zwei junge Frauen bei Hugh Hefner als Models für den „Playboy“. Der Chef der Zeitschrift berichtet daraufhin als Warnung vor den Tücken des Geschäftes aus den Lebensläufen von Page und Lovelace. In einander abwechselnden und damit zwischen den jeweiligen Jahrzehnten hin- und herspringenden Kapiteln erfahren die Gäste Hefners nicht nur die Geschichte der beiden berühmten Frauen.
Durch dieses Verfahren wird es dem Leser ermöglicht, die Parallelen im Werdegang und die Automatismen innerhalb der Sex-Industrie zu erkennen. Da ist der Wunsch beider, berühmte Schauspielerinnen zu werden, und ihr Versuch, über Umwege wie Nacktfotos oder Pornofilme das eigentliche Ziel vielleicht doch noch zu erreichen. Es folgt das Erkennen des Unvermögens auf Grund mangelnden Talents, aber auch die Stigmatisierung durch das Mitwirken an einschlägigen Produktionen. Einhergehend mit der Erkenntnis von der Ausbeutung ihrer Defizite folgt schließlich die extreme Abkehr vom ehemaligen Wirken; bei Page zum Religiösen hin und bei Lovelace zum Kampf gegen Pornografie. So entsteht Kapitel für Kapitel ein überzeugendes Portrait von zwei Menschen, deren Geschlecht innerhalb der Sex-Industrie lediglich einen Warenwert symbolisiert.
Nahtloser Übergang vom Kopf zum Körper
Daher erweist sich die Idee, den Playboy-Chef als Katalysator der Geschichte nutzen zu wollen, als Manko, genauso wie die inkonsequente Auflösung der Rahmenhandlung im letzten Kapitel. Denn warum ausgerechnet Hefner in seiner Eigenschaft als Profitierender von den Verhältnissen in seinem Kerngeschäft eine solche Warnung überbringen sollte, ist unklar. Seine Funktion als Erzähler, der auch den Leser aufklären soll, wirkt konträr zu der bereits beschriebenen Art und Weise der Charakterisierung seiner Person. Ebenso wirken die Dialoge der Figuren im ersten Viertel der Geschichte etwas holprig und stehen dadurch in einer Dissonanz zu den überwiegend gelungenen Zeichnungen.
Oft lassen diese an Darstellungsformen denken, die in den Bilderwelten der 1970er Jahre ihren Ursprung haben. Deutlich wird dies in Szenen, in denen Lovelace Sex hat oder Page in Foto-Produktionen mitwirkt. Diese Seiten enthalten nur wenige und große Panels. Große und helle Flächen vor dunklem Hintergrund erinnern hier an den Siegeszug eines plakativen Stils, der seinen Niederschlag in Werbung und Kunst jener Zeit fand.
In Szenen mit mehreren Personen oder aus der Distanz, die in vielen kleineren Panels dargestellt werden, führt das Weglassen von Details in einzelnen Gesichtern zu einem nahtlosen Übergang vom Kopf zum Körper. Die so entstehende Leerfläche visualisiert ein Vakuum, das die Sprachlosigkeit der schweigenden Mehrheit und deren gleichzeitige, teilnahmslose Komplizenschaft impliziert. Diese Form der Reduktion, bei der die Augenpartie fast immer erhalten bleibt, enthüllt die voyeuristische Natur einer Kultur, deren Auswüchse Page und Lovelace an Hand ihrer Produkte verkörpern.
Anspielungen auf den Comics Code
Passend ist ebenso der häufige Einsatz von Linien im Hintergrund oder als ergänzende Motivwiederholung in Mustern, beispielsweise von Kleidungsstücken. Wie bei einer Filmmusik variieren sie das Grundthema, die das jeweilige graduelle Umfeld der Konformität aufzeigt. Vor diesem Hintergrund wird der immer stärkere Wunsch nach einem offeneren Umgang mit Sexualität verständlich vermittelt. Antico zeigt ohne moralische Belehrung, wie diese Veränderungsversuche nach einer kurzen Phase der Liberalisierung eine profitable Ausbeutungsmaschinerie hervorbrachten.
Der Anspruch, ein authentisches Bild amerikanischer Geschichte zu entwerfen, beinhaltet für die Autorin darüber hinaus, kulturelle Entwicklungen der jeweiligen Zeitabschnitte durch das Auftreten prominenter Persönlichkeiten zu kennzeichnen. Neben den drei Hauptfiguren und Stars wie Sammy Davis Jr. oder der Frauenrechtlerin Gloria Steinem nutzt sie auch Personen, die mit Comics befasst waren: 1955 taucht bei einem Hearing anlässlich des schlechten Einflusses auf Jugendliche von Bettie Pages Bondage-Fotos Senator Estes Kefauver auf. Bereits 1954 vernahm dieser den Herausgeber der berühmt-berüchtigten EC-Comics, William M. Gaines. Dessen Kriminal- und Horror-Titeln unterstellte man ebenfalls einen verrohenden Einfluss auf ihre Konsumenten. Gerade EC-Publikationen aber nahmen durch erwachsenere Thematiken wie beispielsweise Drogenmissbrauch oder Korruption einen moralischen Standpunkt ein und wiesen oft ein hohes grafisches Niveau auf. Noch im selben Jahr wurde ein Comics Code etabliert, eine Art freiwillige Selbstkontrolle durch die Verleger.
Zitat-Pop mit aufklärerischem Credo
Die Figurenwahl des Senators verleiht der Geschichte des von Antico gewählten Mediums einen Subtext. Er verdeutlicht, dass der später gegenüber der kommerziellen Pornografie erhobene Vorwurf, die Jugend zur Nachahmung anzustacheln, im selben Zug fast einer ganzen Kunstform unterstellt wurde. Dies trug in erheblichem Maße zur Selbstrestriktion und Infantilisierung eines Mediums bei, das sich fortan nur noch mit sprechenden Tieren oder der Heroisierung von Kriegs- oder Superhelden befasste. Von dieser im Grunde eine Zensur darstellenden Maßnahme erholten sich die nordamerikanischen Comics über Jahrzehnte nicht mehr. Erst im Jahr 2011 gab der letzte Verlag in den USA die Einhaltung der Comics-Code-Richtlinien auf, der relevantere Themen in Bilderzählungen gewissermaßen mit Pornografie gleichsetzte.
Ein weiterer Kommentar zur Erzählweise des Mediums Comic folgt im Abschlusskapitel von „Coney Island Baby“ mit dem Auftritt des Autorenzeichners Dave Stevens. In seiner Serie „The Rocketeer“ (USA ab 1982, dt. 1987 im Hethke-Verlag und 2010 bei CrossCult) stellte er der Hauptfigur eine Freundin namens Bettie an die Seite, die ein exaktes Ebenbild von Page ist. Seine Hommage an die 1950er Jahre lässt Stevens stellvertretend als Repräsentant für den ironischen, aber nicht unbedingt bewussteren Umgang in den 1980er Jahren mit dem Frauenbild jener Tage stehen - und somit gewissermaßen auch als ein zitierendes Zitat.
In einer Gegenwart, die maßgeblich von Copy-and-Paste-Literatur, Sampling und Zitat-Pop bestimmt ist, eine künstlerisch nicht unübliche Herangehensweise. Antico hat auch in ihrem Comic „Girls Don´t Cry“ (Frankreich 2010, Glénat) in leicht abgewandelter Form einen bereits ironisch gemeinten Albumtitel der Band The Cure in gleichermaßen ironisierender Weise verwandt. Darüber hinaus ist das Titelbild von Anticos Comic im Piktogramm-Stil des „Boys Don´t Cry“-Cover (1980) der englischen Band angelegt.
Insgesamt wird also trotz einiger Schwachpunkte, wie der Wahl Hefners als Erzähler oder des abschließenden letzten Kapitels, die feministische und damit humanistische Intention der Autorin deutlich. Mittels ideenreicher grafischer Umsetzung sowie dem Einsatz zeitgemäßer kultureller Techniken gelingt es Nine Antico, die Mechanismen und Abhängigkeitsverhältnisse, denen Frauen in der Sex-Industrie ausgesetzt sind, exemplarisch aufzuzeigen.
Nine Antico: Coney Island Baby, Edition Moderne, 232 Seiten, 24 Euro. Leseprobe unter diesem Link.
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