Kultur: Kopfstand im Dreivierteltakt
Kammerspiel-Glück für den „Rosenkavalier“: Der Dirigent Kirill Petrenko verzaubert die Komische Oper Berlin
Dieser Abend ist eine Sensation. Als tanzte die ganze große müde Stadt plötzlich Walzer. Als fiele ihr und uns wie Schuppen von den Augen, was wir schon immer wussten und woran wir bloß nicht mehr zu glauben wagten. Aus Mattigkeit, aus kleingestricktem Herzen. Die Zeit, so singt es einem mit Hofmannsthal nächtens in der Seele, die ändert doch nichts an den Sachen. Was also soll uns, ha!, das ganze Weh und Ach, was fürchten wir uns vor Ekel-Theater und sozialer Verblödung: Die Oper, wenn sie so selbstverständlich selbstbewusst und bescheiden daherkommt wie in diesem „Rosenkavalier“ an der Behrenstraße, wird uns retten. Als letzte, erste Herausforderung. Wir müssen nur ein bisschen wollen.
Das Geheimnis des Erfolgs ist rasch gelüftet. Andreas Homoki, Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper, hat Strauss‘/Hofmannsthals Komödie für Musik schon einmal in Szene gesetzt, vor sieben Jahren am Theater Basel. Als sich nun erwies, dass das ursprünglich vorgesehene Team um den britischen Regisseur Richard Jones mit dem Montagecharakter des Stücks, mit seinen zuckrigen k.u.k.-Künstlichkeiten und weltschmerzlichen Melancholien nichts rechtes anzufangen wusste, da griff Homoki kurzerhand ins Archiv. Und förderte eine Inszenierung zu Tage, die weder revolutionär ist noch sonderlich aufregend noch handwerklich unanfechtbar (was realistische Personenregie heißt, wusste Otto „Otti“ Schenk wohl besser!) – und die just aus diesem gewissen Biedersinn doch eine enorme Kraft schöpft und Zärtlichkeit.
Zu verdanken hat Homoki dies der musikalischen Gestaltungskunst von Kirill Petrenko. In seiner messerscharfen Analyse, im Mut zur Ausreizung der Extreme, in seiner Hingabe ans Sentiment wie an die Sentimentalitäten dieser kubistisch flunkernden Partitur besitzt der 33-jährige Generalmusikdirektor einfach Weltniveau. Kaum je nach Carlos Kleiber – ein großes Wort! – wurde der „Rosenkavalier“ so unbestechlich durchdekliniert: im Wienerischen niemals weinerlich, nie nur die schönen Stellen ausmalend und doch zutiefst affiziert vom gleißenden Wohlklang dieser Musik und um deren Wahrhaftigkeit ringend bis zuletzt. Allein die Begleitung des Marschallinnen- Monologs – die Brunst der Bläser, das wolkenweiche Streicherweben – lässt einen vor dem Orchester der Komischen Oper auf die Knie sinken . . .
Weder hat Homoki also etwas mit der überfälligen Revision des Strauss‘schen Musiktheaterbegriffs jenseits des Wagnerschen im Sinn (wie Peter Konwitschny sie vor ein paar Jahren in Hamburg zur Diskussion stellte) noch hinterfragt er, was seine Sache als Regisseur nie war, die Oper als Oper. Er bleibt bürgerlich, nutzt die Intimität des Hauses – und erzählt eine Geschichte. Von der Feldmarschallin und deren blutjungem Liebhaber Octavian, von der neuadeligen süßen Sophie und dem trampelig-dauergeilen Baron Ochs, vom Lauf der Welt und vom Wissen darum. Das alte böse Dreieck eben: Ein Mädchen liebt einen Jüngling, der hat eine andere erwählt. So einfach ist das, und so weh tut es. Immer wieder.
In Frank Philipp Schlößmanns Raum – dem Gipsabruck eines barocken Salons, seltsam lichtlos, blind, ja klaustrophobisch und akustisch zweifellos ein Geschenk – spielt unterdessen die Zeit verrückt. Ist der erste Akt mit Puderperücke und Schnallenschuh (die witzig ausstafierten Kostüme stammen von Gideon Davey) noch hübsch brav im maria-theresianischen Rokoko angesiedelt, beschwören die Schelllackkommoden und Sterlingleuchter des zweiten Jugendstil, Jahrhundertwende, dichterische Gegenwart. Aber auch dieses Weltbild gerät flugs aus den Fugen, kippt und steht im dritten Akt regelrecht auf dem Kopf. Lose baumeln die Türen in den Angeln, was nicht niet- und nagelfest ist, schaffen Plünderer fort.
Im Lärm des Beisls schließlich, der den Ochs entlarvt, in der Parodie des Aristokratischen als Gerippe seiner selbst sehen Homoki und Petrenko die Vorboten des Ersten Weltkriegs. Rumms, rumms, rumms macht der Dreivierteltakt, Schwefel-Blitze zucken, das Blech scheint veritablen Kanonen aufgepflanzt, das Holz schrillt, Pauken, Ratsche und Rührtrommel rufen zum jüngsten Gericht, der Chor purzelt herein und gleich wieder heraus, Schutz suchend vor der nächsten Krachsalve (Einstudierung Robert Heimann) – kurz: das Tohuwabohu ist perfekt. Und Schnitt und Schlussterzett.
Im panischen Erschrecken des Stücks vor sich selbst, in eben diesem Innehalten liegen die erregendsten Momente des Abends. Wenn der italienische Sänger (beherzt: Timothy Richards) wie der Tod aus Hofmannsthals „Jedermann“ in einen leeren Raum hineingrüßt; wenn die Überreichung der silbernen Rose im Bild gefriert und musikalisch fast zerbricht; und wenn die Marschallin am Ende, zur letzten Strophe des Duetts Octavian-Sophie aus dem Off, aller Rokoko-Üppigkeit entsteigt und plötzlich wieder die junge Resi ist. Weil jedem noch so bitteren Ende ein Anfang innewohnt? Weil nichts kostbarer ist und kitschiger als – Erinnerung?
Das Theater mag in der Krise sein, unsere musikalische Bildung zur Hölle fahren. Solange es auf der Welt ein Sängerensemble gibt wie dieses, das den Strauss- schen Konversationston so zu treffen vermag und das so hinreißend zu spielen versteht, solange ist die Oper definitiv nicht tot. Geraldine McGreevys glasklar deklamierende, rosenölfrische Marschallin, Stella Doufexis‘ jungenhaft-anziehender Octavian, Brigitte Gellers wehrhafte Sophie, Jens Larsens großartig komischer, trotz Luftröhrenentzündung sonor auftrumpfender Ochs, Klaus Kuttlers aaliger Faninal und auch Miriam Meyers hysterische Leitmetzerin und Christoph Späths Valzacchi und die vielen anderen: Bitte nehmt uns an die Hand, nehmt uns mit. Wohin auch immer. Ovationen.
Wieder am 8., 16., 22. und 30. April.
Christine Lemke-Matwey
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