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Selbstgebastelte Isolation. „Sind wir systemrelevant?“, fragt sich das Gorki-Ensemble.
© imago images/Future Image

Theater über den Corona-Ausnahmezustand: Konflikte bergen Aerosole

Wir und das Virus: Yael Ronens Pandemie-Abend „Death Positive – States of Emergency“ im Berliner Maxim Gorki Theater.

Zu Beginn von „Death Positive – States of Emergency“, der neuen Inszenierung von Yael Ronen, referiert Niels Bormann die aktuellen Auflagen der Kultursenatsverwaltung: „Ein sprachlicher Dialog zwischen zwei szenisch agierenden Personen im Bereich 40-45 Dezibel erfordert einen Abstand von 1,5 Metern“, verkündet der Schauspieler, der in einem Plastikschutzanzug steckt und mit Signalklebeband ein großzügiges Bühnengeviert für sich abgesteckt hat. „Kommt es zu exzessivem und emotionalem Sprechen in einem Bereich von 45-70 Dezibel“ – so geht es im Bürokratenjargon weiter – erhöhe sich der Mindestabstand auf sechs Meter.

Bitte Abstand halten

Die meisten Zuschauer kennen diese Regeln inzwischen (und stellen mehr oder weniger erstaunt fest, dass das Theater auf Distanz auch vor den Pandemieauflagen schon en vogue gewesen sein muss, weil sich so Gravierendes auf der Bühne gar nicht verändert hat). Aber natürlich geht es hier um Fundamentaleres: Aus dem kleinen Konkreten das große Übergeordnete abzuleiten, ist Programm bei den Abenden der israelischen Regisseurin Yael Ronen, die zu Recht dafür geschätzt wird, ihre Gesellschaftsdiskursabende aus biografischen Tiefenbohrungen mit den Schauspielerinnen und Schauspielern zu entwickeln.

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„Wir sind im Ausnahmezustand“, monologisiert Bormann also hinsichtlich des Distanzgebots weiter: „Kein guter Zeitpunkt für Dialoge, Dialoge sind gefährlich, die Fakten sind nicht klar, niemand will zuhören, alle wollen recht haben, Dialoge werden zu Konflikten und Konflikte sind voller Aerosole.“

Das eigene Viereck verteidigen

Normalerweise sind solche Bormann-Wortkaskaden sichere Lacher im Gorki-Parkett. Und vielleicht liegt es ja tatsächlich nur am pandemiebedingt dünn besiedelten Saal, dass die Reaktion diesmal deutlich verhaltener wirkt. Möglicherweise hat es aber auch mit der Ambivalenz und Ratlosigkeit zu tun, in der sich Ronens Inszenierung selbst befindet – und die sie entsprechend ausstellt. Nicht nur, wenn Bormann sich als obsessiver Regelprediger einerseits zu Recht auf Vernunft und Rücksichtnahme beruft, dabei andererseits aber auch deutlich autoritäre Charakterfacetten erkennen lässt und das Regelwerk in nachgerade plakativer Schamlosigkeit für sein schauspielerisches Rampensau-Ego instrumentalisiert: „Ich war zuerst hier. Das gehört mir. Betreten verboten“, verteidigt er sein abgestecktes Bühnenviereck etwa gegen die Kollegin Aysima Ergün, die das Recht zu zweifeln hochhält: „Warum sollte ich denn jetzt einfach der offiziellen Erzählung glauben, wenn ich weiß, dass ich vorher schon mal belogen wurde? Wie beim NSU!“

Zeugnis der Isolation

Ronens Produktion triggert tagesaktuelle Branchen-Fragen – ohne zu behaupten, mit deren Beantwortung selbst weiter zu sein als das Publikum. Sie stellt sie vielmehr direkt in den Raum: „Sind wir systemrelevant? Was, wenn nicht? Sollen wir aufhören? Sollen wir uns verändern? Wie? Was ist unsere Aufgabe? Was ist wirklich wichtig?“ Auch performativ legt der Abend von den Krisen- und damit auch seinen eigenen Entstehensbedingungen Zeugnis ab: Es herrscht Isolation; jeder und jede bleibt mit aller Konsequenz in seiner oder ihrer eigenen Situationswahrnehmung und -befindlichkeit: Lea Draeger erinnert sich in einem Minizelt an die psychischen Herausforderungen während der ersten Shutdowntage, Tim Freudensprung sinniert über Dystopien, und Orit Nahmias und Knut Berger führt das Nachdenken über (nicht coronabedingte) elterliche Todesfälle zum Topos des Loslassens – als Neustartvoraussetzung an und für sich und somit sicher auch des nächsten Ronen-Abends (wieder am 9. bis 11. Oktober).

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