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Best of Beethoven. Szene aus „Trois Grandes Fugues“, mit denen das Ballet de l’Opéra de Lyon das Festival eröffnen wird.
©  Bertrand Stofleth

Nele Hertling und das Festival "Tanz im August": Kleine Schritte, große Sprünge

Das Berliner Festival „Tanz im August“ feiert 30. Geburtstag. Nele Hertling hat es einst aus der Taufe gehoben. Eine Begegnung.

Der „Tanz im August“ hat sich zu einem Festival von großer Strahlkraft entwickelt. Er konnte auch die Entwicklung der Berliner Tanzszene positiv beeinflussen. Sein 30-jähriges Jubiläum feiert das seit 2014 von Virve Sutinen geleitete Festival mit einem besonders glanzvollen Programm. Vom 10. August bis zum 2. September werden 30 Produktionen, darunter vier Uraufführungen und 16 Deutschlandpremieren, an elf Spielorten gezeigt (Programminfos siehe Kasten).

Wenn das Festival an diesem Freitag im Haus der Berliner Festspiele mit dem Ballet de l’Opera de Lyon eröffnet wird, darf Nele Hertling nicht fehlen. Sie ist Gründungsmutter, einflussreich in der Berliner Kulturszene und immer noch eine engagierte Netzwerkerin. Nun sitzt sie im Foyer der Akademie der Künste am Hanseatenweg – wo sie in den siebziger Jahren gemeinsam mit Dirk Scheper das wichtige Festival „Pantomime Musik Tanz Theater“ ins Leben gerufen hatte – und erinnert sich, wie alles anfing mit dem August und dem Tanz und dem Hebbel-Theater der Neuzeit, das seit 2003 HAU heißt; eine Namensschöpfung von Matthias Lilienthal, der auf Nele Hertling folgte und 2012 die Leitung des Hebbel/HAU an Annemie Vanackere weitergab.

Theatergeschichte ist Stadtgeschichte. Im Jahr 1988 wurden die Weichen gestellt, damals war West-Berlin Kulturstadt Europas. Hertling, als Leiterin der „Werkstatt Berlin“ verantwortlich für das Programm von E88, sah eine Chance, den Tanz voranzubringen, und klopfte beim damaligen Kultursenator an. „Die erste Frage an Volker Hassemer war: Können wir aus dem Budget, das wir zur Verfügung haben, ein großes Tanzprojekt machen?“

Es ging darum, neue Strukturen zu schaffen

Ein sommerliches Tanzfestival kam auf die Beine, das bis dato einzigartig war. Die internationalen Compagnien wurden nicht nur eingeladen, ihre Stücke zu zeigen, sondern auch verpflichtet, Werkstätten und Workshops mit Berliner Tänzern abzuhalten. Dominique Bagouet, Cesc Gelabert und Giorgio Barberio Corsetti gehörten zu den Künstlern der ersten Stunde. Auch der amerikanische Tanz- Avantgardist Merce Cunningham, der eine Auftragschoreografie kreierte, blieb mit seiner Company länger in der Stadt und hielt Klassen ab. Bei den Performance Projects, die in Kooperation mit der Tanzfabrik Berlin präsentiert wurden, waren Steve Paxton, Lisa Nelson, Mark Tompkins und andere dabei. „Damals ist das entstanden, wovon Berlin als Tanzstadt heute noch lebt: dass die Künstler sich kennengelernt haben, dass sie angefangen haben, Kooperationsgedanken auszutauschen“, erzählt Hertling.

Mit ihrem Weitblick dachte sie über 1988 hinaus; ihr ging es darum, neue Strukturen zu schaffen. Als das Kulturstadtjahr zu Ende ging, wurde mit dem Land Berlin über eine Weiterführung der Projekte verhandelt. Es sei ein ganz schwieriger Prozess gewesen, erzählt Hertling. Aber Hassemer hat es schließlich geschafft, die Zustimmung der Parteien zu bekommen, dass das Hebbel-Theater als internationaler Spielort weitergeführt werden soll. Hertling bekam den Auftrag, eine GmbH zu gründen. „Tanz im August“ fand erstmals 1989 statt. Die Verantwortung lag beim Hebbel-Theater, die TanzWerkstatt Berlin, geleitet von André Theriault und Ulrike Becker, war für den Werkstatt-Bereich zuständig. Der Werkstatt-Gedanken war für Nele Hertling entscheidend, als sie „Tanz im August“ aus der Taufe hob: „Es ging nicht nur darum, ein Festival zu gründen, es ging darum, die Tanzszene miteinander zu vernetzen, gemeinsame Produktionen anzuregen und vor allem die Berliner Szene dadurch noch vor dem Mauerfall zum ersten Mal in einen internationalen Kontext zu bringen.“

Nele Hertling
Nele Hertling
© Inge Zimermann

Bei der ersten Ausgabe von „Tanz im August“ wurden 15 Produktionen aus Europa gezeigt, eingeladen waren auch Berliner Choreografen wie die Tanzcompagnie Rubato. Daraus entwickelte sich mit der Zeit das größte Tanzfestival Deutschlands. Neben Hebbel-Theater und Podewil konnten auch andere Spielorte einbezogen werden, für einige Jahre öffneten sich sogar die Opernhäuser. Allzu große Sprünge konnte man damit nicht machen. Auch das Hebbel-Theater war nicht besonders üppig finanziert, aber als international koproduzierendes Haus konnte es seine Programmmittel fast verdreifachen. Hertling hat dann entschieden, dass ein wesentlicher Teil des Budgets in das Festival fließt. „Wir haben aus unserem Etat die Existenz von ,Tanz im August‘ garantieren können“, erzählt Hertling, „deswegen konnten wir auch langfristig planen.“ Nele Hertling ist ein Phänomen: Sie hat mit 84 Jahren ein fantastisches Gedächtnis. Eine ihrer wesentlichen Eigenschaften – neben ihrer Leidenschaft für den Tanz und das Theater – ist ihre Hartnäckigkeit. Auch als das Festival längst etabliert war, hat sie die politische Debatte weitergeführt. „Wir haben immer versucht, den Politikern mit den Beispielen von ,Tanz im August‘ verlockend klarzumachen: Das könntet ihr auch haben, wenn sich andere Fördermaßnahmen in Berlin umsetzen ließen.“

Die gegenwärtige Situation in Berlin findet sie sehr unbefriedigend

Im September wird Nele Hertling mit dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichnet. Sie habe über viele Jahre die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes in Deutschland geprägt, begründet die Jury ihre Entscheidung. „Ich habe immer dafür gekämpft, dass Tanz eine eigenständige Kunstform ist “, sagt sie rückblickend.

Die jetzige Situation in Berlin findet sie alles andere als befriedigend. „Ich bedauere sehr, dass es nicht an einem der großen Häuser eine zeitgenössische junge Kompanie gibt.“ Denkbar wäre auch, eine Kompanie für drei Jahre als Residenzkünstler an ein Opernhaus anzugliedern. Außerdem sollte es mehr Gastspiele an den großen Häusern geben. „Das ist meine große Frustration, dass die Berliner Festspiele diese Chance – im Grunde eine Verpflichtung – nicht nutzen, in ihrem Haus und mit ihrem Etat mehr für die Verbreitung des internationalen zeitgenössischen Tanzes zu tun.“

Sie ist jetzt auch beim Runden Tisch dabei, in dem über strukturelle Verbesserungen der Berliner Tanzszene debattiert wird. Dabei kommt sie sich manchmal wie in einer Zeitschleife vor. „Es hat sich wahnsinnig viel geändert in Berlin – finanziell, räumlich, strukturell. Aber manche grundsätzlichen Fragen, die jetzt diskutiert werden, sind identisch mit den Fragen, die wir in den Neunzigern diskutiert haben.“ Wichtig sei es, noch mehr für den Tanz zu werben: „Es braucht den Weg in die politische Entscheidungsebene, sonst bleibt alles, wie es war: Papier, über das man sich nach 20 Jahren wundert.“ Theatergeschichte ist immer auch Gegenwart.

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