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Rick McPhail, Arne Zank, Jan Müller und Dirk von Lowtzow sind Tocotronic.
© picture alliance / dpa

Soundcheck Award: Kleine Schritte, große Sätze

Tocotronic werden heute Abend in der Radio eins-Sendung Soundcheck mit dem Soundcheck Award für das beste Album des Jahres 2015 geehrt. Eine Hommage an die Band.

Und wieder findet sich zwischen all den Sätzen, Liedzeilen und Gedanken einer dieser überstehenden, ragenden Sätze. Man könnte ihn in großen Lettern an eine Brandwand pinseln. Oder auf ein T-Shirt drucken. Er funktioniert ohne jeden Kontext, sogar ohne die Akkorde und den Lärm der Gitarren, für die Sänger Dirk von Lowtzow ihn gedacht hat. „Liebe wird das Ereignis sein“, lautet der Satz, der selbst ein kleines Ereignis ist. Ein anderes ist: „Wir sind mehr als zwei.“

Liebe, so lässt sich aus beidem schließen, existiert nicht als Privatvergnügen, sondern braucht den Raum, der sie möglich macht. Aber auch das ist wahr: Gute Musik besteht nicht aus Worten.

Allerdings passiert es durch Worte, dass sie sich in einem Winkel des Bewusstseins festsetzt und erkennbar wird. Und Tocotronic blieben sich bei allem, was sie heute von ihren Anfängen vor 20 Jahren unterscheidet, darin immer treu, mehr als bloß Sprüche abzusondern. Auf ihrem unbetitelten, mit einem roten Cover versehenen Album, das am 1. Mai 2015 erschien und nach Meinung der Soundcheck-Jury das beste Album des Jahres war, lotet die Band Bedeutungstiefen aus und öffnet sich einer unruhigen, in Bewegung geratenen Gegenwart.

Nur große Bands machen einen solchen Schritt, können ins Unbekannte weitergehen, nachdem sie bereits alles erlebt haben. In ihrem Fall den frühen Ruhm als Wunderkinder der Hamburger Schule, die „Tocomania“ des Anfangs, die aus einer kleinen Indieband eines kleinen unbedeutenden Labels die Poster Boys der ersten postmodernen Pop-Generation machte und sie auch gleich hätte korrumpieren können. Jeder trug Trainingsjacken wie sie, stanzte sich Sentenzen ins Hirn wie „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“. Aber die Studienfreunde Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank ließen diese Phase 1997 hinter sich, indem sie Fühlung mit dem Postrock aufnahmen. Es folgte ihre Berlin-Trilogie aus Alben, mit denen sie die große Widerstandsgeste der Gegenkultur in Szene setzten. Bis auch das erledigt war. Während andere Bands zerfallen oder in ihrer Entwicklung stagnieren, werden Tocotronic immer besser. Wie bekommen sie das hin?

Mit Lärm balanciert Dirk von Lowtzow seine notorischen Skrupel aus

Eine Antwort könnte sein, dass ihnen selbst nach all den Jahren ein bisschen rätselhaft ist, was sie musikalisch treiben. Sie denken in kurzen Schritten und oft nach einem Album, dass es das letzte gewesen sein könnte. Aber dann ... Ökonomisch bewegen sich auch Tocotronic auf dünnem Eis. Für die meisten Bands ist Musik zu einem kostspieligen Hobby geworden, wie Sven Regener einmal sagte. Wie kann man seine Ansprüche da in die Höhe treiben?

Man möchte die Gründe dafür auch in Berlin finden, wohin die Band größtenteils umgesiedelt ist und in Moses Schneider ihren Produzenten gefunden hat. Doch ein langes Gespräch mit Dirk von Lowtzow über dieses Thema ließ ihn alle möglichen kreativen Einflüsse der Stadt verwerfen. Er wolle mit jedem neuen Album das vorausgegangene revidieren, sagte er und nannte es „Zweifel-Hefe“, was da an Unzufriedenheit mit der Zeit in ihm aufging. Wobei Dirk von Lowtzow wie viele deutschsprachige Popmusiker zu den Menschen zählt, die Lärm und Klang brauchen, um die notorischen intellektuellen Skrupel mit einem Gefühl für das Intuitive und Richtige auszubalancieren.

Seit seiner Jugend in Offenburg habe er sich in ein Dasein als Rockmusiker „hineingeträumt“, erzählte von Lowtzow. Doch die letzte „echte“, mit einem Lebensgefühl aufgeladene Musik war Grunge. Und gerade in dessen Kollaps hinein begannen Tocotronic ihre Laufbahn. Sie fanden eine Band wie Guided By Voices großartig, weil deren Stücke abbrachen, als müssten sie sich vor sich selbst schützen. Von Lowtzow kaufte sich die erste Single von Smog mit dem Titel „A Hit“ und darin hieß es: „It’s not gonna be a hit, why even bother with it?“ Mit derselben Lakonie schrieben Tocotronic Songs, die das Musikmachen zum Gegenstand hatten und ihre Aussage schon im Titel erschöpften: „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ oder „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“.

Anfangs wollten sie auf einer Metaebene zeigen, was eine Band ist

Aber die Musiker waren zu jung, um ihnen das ausgefeilte Konzept einer Fake-Band abzukaufen. „Wir dachten, dass wir eine Band wären, die auf einer Metaebene zeigt, was eine Band ist“, sagt von Lowtzow. „Bevor wir den ersten Ton aufnahmen, hatten wir unsere eigenen T-Shirts und Flyer, unseren Privatkosmos entworfen. Das fiel zusammen mit einer Entwicklung der bildenden Kunst, Kontextkunst genannt, die mit den Mitteln der Kunst über das Kunstmachen reflektierte. Natürlich gibt es dabei noch eine andere Seite, dass man mit einer Musikband seine Botschaft auf eine Weise emotional aufladen kann, wie das der Kunst nicht gelingt.“

Das Konzept ließ die Band sich selbst über jede ihrer Schaffensphasen hinweg interessant bleiben – nach den schnellen skizzenhaften Alben des Anfangs; der ersten Pop-Opulenz ihres „weißen“ Albums und der Erweiterung der Band durch Gitarrist Rick McPhail; der Berlin-Trilogie, die noch einmal große Widerstandsgesten inszenierte und im kriegerischen „Schall & Wahn“ endete. Wobei Lowtzow nie aufgehört hat, ,erste Schritte‘ in seiner Muttersprache zu vollziehen. Sie interessierte ihn nicht sonderlich, bevor er bei Tocotronic zum Sänger wurde. Bis heute will er keine Innenansichten verbreiten, sondern nutzt die Fremdheit der Sprache für neue Erfahrungen und kontextuelle Verschiebungen, indem er Worte aus dem Zusammenhang reißt und in seinen Garten verpflanzt. Wobei er zuletzt sogar dazu übergegangen ist, das Versmaß aufzubrechen und Sätze noch zerpflückter in den Raum zu stellen: „Eines Morgens bist du in der Fremde/Aufgewacht. Deine Hände /Zittern noch. Du hörst in dich hinein/Doch das wird erst der Anfang sein.“

Songs wie "Ich öffne mich" haben seismische Deutungskraft

Als das „rote“ Album erschien, zeichnete sich ab, dass Deutschland mehr Flüchtlinge würde aufnehmen müssen als je zuvor. Die Bereitschaft, das zu tun und Hilfe zu leisten, war groß, die Furcht davor war es ebenfalls. In diese Stimmung hinein züngelte Tocotronics vollendet schöne Musik mit einer großen Pop-Geschmeidigkeit, mit einer Elastizität der Glieder und Gedanken, in denen Chöre und Streicher ebenso Platz haben wie die emphatische Feststellung: „Ich öffne mich“. Es geht um die Erwartung einer „Zeit der Zärtlichkeit“, um „Solidarität“ mit Schutzlosen und ein „in Spiralen“ kreiselndes Gefühl. Man weiß nicht, ob private Irritationen hier eher zufällig mit den politischen Debatten verschmelzen. Aber es macht das Album zu einem Meisterwerk mit seismischer Deutungskraft.

Tocotronic erhalten den Soundcheck Award um 21 Uhr in der Sendung aus dem Radio eins-Studio im Kino Babylon Mitte. Livestream auf www.radioeins.de. Ein Videobericht der Verleihung folgt auf www.tagesspiegel.de/kultur.

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