„intonations“-Festival im Jüdischen Museum: Kleine Formen, große Würfe
Von Mozart und Haydn über Brahms bis hin zu Prokofjew und Pintscher: Das Programm von „intonations“ zeigt 2018 die Kammermusik in ihrer ganzen Vielfalt.
Die Kammermusik hat viele Gesichter. Von verschiedensten Zentren und Regionen aus hat sie Impulse zu ihrer Entwicklung erfahren, unterschiedliche Denkweisen und Kulturen haben sie geprägt. Dass die Kammermusik, so wie sie heute in den Konzertsälen der Welt und auf vielen Festivals präsent ist, maßgeblich von den Protagonisten der Wiener Klassik entfaltet wurde, steht außer Frage, im Blick auf die Genres wie auf die Formen. Haydn, Mozart und Beethoven haben entscheidende Grundlagen gelegt – und ihre Werke selbst zählen nach wie vor zum unverzichtbaren Bestand der europäischen Kammermusik.
Wie in jedem Jahr sind sie auch 2018 bei „intonations“ vertreten. Vom „Altmeister“ Joseph Haydn, der wie kein anderer die klassischen kammermusikalischen Gattungen etabliert hat, wird die 1787 uraufgeführte Streichquartettfassung seiner „Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ geboten, aus einer Folge von expressiven Adagio-Sätzen bestehend, die durch zwei dramatisch zugespitzte Musiken eingerahmt wird.
Von Wolfgang Amadeus Mozart, der Haydn bekanntlich viel verdankt, erklingt das zweite seiner etwa zur gleichen Zeit entstandenen Klavierquartette, von seinem Salzburger Zeitgenossen Michael Haydn, Josephs jüngerem Bruder, ein Divertimento in einer Bläser-Streicher-Besetzung.
Das berühmte, von Graf Ferdinand Ernst von Waldstein stammende Diktum, der junge Ludwig van Beethoven habe, 1792 vom heimischen Bonn nach Wien reisend, dort „Mozarts Geist aus Haydns Händen“ erhalten, brachte erstmals die Namen aller drei späteren „Wiener Klassiker“ in einen Zusammenhang.
Musik aus Wien bildet einen Schwerpunkt im Festivalprogramm
Insgesamt spielt Musik aus Wien bei „intonations“ 2018 eine zentrale Rolle. Franz Schubert, der als direkter Zeitgenosse Beethovens sich ästhetisch spürbar anders orientierte, ist repräsentiert durch eines seiner „Wunderwerke“ aus dem Todesjahr 1828, der Fantasie f-Moll für Klavier zu vier Händen. Von Johannes Brahms erklingen gleich drei gewichtige Werke, die er ebenfalls gegen Ende seines Lebens verfertigte: Die überschwängliche zweite Sonate für Violoncello und Klavier, das herbstlich-dunkle Klarinettenquintett sowie die „Vier ernsten Gesänge“ auf Worte der Heiligen Schrift.
Brahms, ein Kammermusikkomponist par excellence, erlebte noch den Aufstieg Gustav Mahlers mit, der bereits im Alter von 16 Jahren ein Klavierquartett in Angriff genommen hatte, von dem er indes nur einen Satz vollendete. Dieses frühe Zeugnis der außergewöhnlichen Begabung Mahlers wird einem 1896 entstandenen Trio für Klarinette, Violoncello und Klavier des jungen Alexander Zemlinsky an die Seite gestellt, das von einem merklichen „Brahms-Ton“ getragen ist.
Beide, Mahler wie Zemlinsky, sollten um und nach der Jahrhundertwende zu den wesentlichen Förderern des Kreises um Arnold Schönberg gehören, der sich als „Wiener Schule“ in die Musikgeschichte eingeschrieben hat. Die Bahn zu einer wirklichen Moderne war bereitet worden, auch und gerade durch Werke wie Schönbergs 1907/08 komponiertes zweites Streichquartett, in dem neben den vier Instrumentalisten auch eine Sängerin einbezogen ist. Dessen Meisterschüler Anton Webern vollendete 1927 ein Streichtrio, in dem die von Schönberg entwickelte Zwölftontechnik Anwendung fand.
So sehr Schönberg und sein Kreis den Ablösungsprozess von der musikalischen Romantik auch betrieben haben, so sehr blieben doch viele Komponisten und Werke dieser Ästhetik im Musikleben präsent. Nach wie vor war Brahms einer der Leitsterne, im Übrigen auch für Schönberg selbst. Der Brahms-Generation angehörig ist Max Bruch, der zu Beginn der 1880er-Jahre „Kol Nidrei“, ein Adagio für Violoncello und Orchester (oder Klavier) schrieb, das von zwei alten hebräischen Melodien inspiriert ist.
Neben Brahms war es vor allem Felix Mendelssohn Bartholdy, dessen Musik für Bruch eine Richtschnur war. Mendelssohns Streichoktett, das Werk eines 16-Jährigen, kann als „großer Wurf“ angesehen werden.
Der Blick aschweift auch gen Frankreich, Belgien und Russland
Von Wien und der Mitte Europas ausgehend begibt sich der 2018er-Jahrgang von „intonations“ in zwei Programmen sowohl in Richtung Westen als auch in Richtung Osten. Zum einen wird Musik aus Frankreich und Belgien geboten: Der Bogen spannt sich dabei von einer Cellosonate aus der Feder von Jean Barrière, einem Komponisten der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, über ein Stück des frühverstorbenen Guillaume Lekeu sowie zwei Werke des Spätromantikers Ernest Chausson bis zu „Les Rêves de Jacob“ für Oboe und Streicher von Darius Milhaud, das der neoklassischen Strömungen verpflichtete Pariser Komponist 1949 fertigstellte.
Zum Anderen geht der Blick gen Osten: Die reichhaltige russische Kammermusik des späten 19. Jahrhunderts ist mit Peter Tschaikowskys „Souvenir de Florence“ sowie mit Anton Arenskys erstem Klaviertrio vertreten. Leoš Janácek, von der Musik Russlands hochgradig fasziniert, kommt mit seinem in den mittleren 1920er-Jahren komponierten Concertino für Klavier, Bläser und Streicher zu Gehör, während Sergej Prokofjew durch zwei im gleichen Zeithorizont entstandene Werke repräsentiert ist: die Ouvertüre über hebräische Themen für Klarinette, Streichquartett und Klavier op. 34 sowie das Quintett op. 39 in einer originellen Bläser-Streicher-Kombination.
Bleiben noch zwei Komponisten aus jüngerer Zeit, deren Werke sich anknüpfend zu denen anderer im „intonations“-Programm verhalten. Alfred Schnittke vollzieht mit „Moz-Art“ (in der Fassung für zwei Violinen von 1976) den Brückenschlag zu dem verehrten Wiener Klassiker. Matthias Pintscher wiederum, der jüngste Komponist des Festivals, schrieb 2011 mit „Uriel“ für Violoncello und Klavier ein Kammermusikwerk, das eine biblische Figur in den Mittelpunkt stellt, den Erzengel Uriel, in der jüdischen wie der christlichen Tradition gleichermaßen bedeutsam, das Licht Gottes und die Erleuchtung der menschlichen Seele symbolisierend.
Pintschers Komposition gliedert sich ein in eine Reihe anderer Stücke mit Themen, welche Judentum und Christentum gleichermaßen betreffen, von Haydn und Beethoven über Brahms und Bruch bis zu Prokofjew und Milhaud. Und dass gerade Musik aus Wien – jener Stadt, wo Künstler beider religiöser und kultureller Prägungen über lange Zeit eng im Austausch miteinander waren – im Fokus steht, ist eine der leitenden Ideen und Intentionen für „intonations“ 2018.
Detlef Giese