Gänsehautmomente und Gedankenblitze: Klassikfans schildern ihre ganz persönlichen Beethoven-Geschichten
Beethoven prägte das Leben vieler Klassikfans. 2020 feiert die Welt seinen 250. Geburtstag. Hier teilen sieben Autoren ihre persönliche Beziehung zum Meister.
Rüdiger Schaper: Beethoven war in der Jugend meine heimliche Leidenschaft
Es begann mit einem Paar Schlagzeugstöcken. Für ein Drum Set hatte es nicht gereicht. Mein Freund Thomas, dessen Schwester Musikerin war, in Nachtclubs auftrat und ihren Bruder mit den neuesten Platten versorgte, gab den Takt vor. Wir trommelten auf ein Sofakissen zu den Hits von Creedence Clearwater Revival und Chicago, bis uns die Arme abfielen.
Ich hatte aber insgeheim eine andere Leidenschaft im Kopf. Beethoven. Im spärlich bestückten Bücherschrank meiner Eltern (fast alles war aus dem Bertelsmann Buchclub) fand ich eine Biografie des Komponisten, den ich für den Einzigen und Größten hielt – auch weil ich andere nicht kannte.
Allein zu Hause, drehte ich die Stereoanlage bis zum Anschlag auf und dirigierte die Fünfte. Für fünf Mark hatte ich die Platte gekauft, an die Interpreten erinnere ich mich nicht mehr. Ich schwang den Schlagzeugstock zu den sinfonischen Wellen, die durch das Wohnzimmer (Perserteppich, Schrankwand, Holzdecke) brandeten.
Ich bekomme heute noch Gänsehaut
Ich war der 16-jährige Maestro niedersächsischer Winternachmittage. Beethoven rauschte über Hausaufgaben und Spätpubertätsdepression hinweg.
Ich nahm Beethovens Sonne mit ins Studium, mit dem alten Klemperer und dem jungen Barenboim. Eine Langspielplattenkassette, aufgenommen in den sechziger Jahren. Hier wählte ich das 5. Klavierkonzert, und besonders lag mir das Adagio am Herzen; ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn der langsame Satz beginnt, das Orchester erwartungsvoll verstummt und zart und fragend das Klavier anklopft.
Meine Dirigentenkarriere war kurz und sehr privat. Ich schaffte es nicht, die Hand ruhig zu halten. Ich fuchtelte zu viel, war immer fertig vor der Zeit, hielt die Spannung nicht. Hatte nicht den Atem für Beethovens Seelenwanderungen und gab lange vor dem Finale auf, ließ die Arme sinken.
Aber Beethoven war mir ins Herz gepflanzt. Meine ersten Zeitungsartikel waren Musikkritiken, die ich für das Lokalblatt schrieb. Seltsamerweise war die Redaktion der Meinung, ich verstünde etwas von klassischer Musik.
Wie ich durch Adorno Beethoven verstand
Christiane Peitz: Adorno half mir, Beethoven zu verstehen
Musikstudium, 2. Semester, Nebenfach Klavier. Meine Lehrerin, Lotte Jekéli aus Siebenbürgen, hatte mir Beethovens späte Bagatellen verschrieben. Op. 126, leichte Stücke, bei denen sich trefflich an der Interpretation feilen lässt.
Aber ich war nicht sonderlich begabt; schon im G-Dur-Andante con moto wollte mir die simple Trillerkette in der Mitte des kurzen Satzes nie auch nur ansatzweise so gelingen, wie sie mir vorschwebte.
Eines Tages, das Semester neigte sich dem Ende zu, legte die Klavierlehrerin zwei kopierte Buchseiten aufs Klavierpult.
„Lesen Sie mal“, sagte sie ohne weiteren Kommentar.
Ein Gedanke traf mich wie ein Blitzschlag
Es waren die Ausführungen über Beethovens Spätwerk aus Adornos „Musikalischen Schriften“.
Von „stehen gelassenen Konventionen“ war da die Rede, die „kahl unverhüllt, unverwandelt“ im Kunstwerk sichtbar würden: „So werden beim letzten Beethoven die Konventionen Ausdruck in der nackten Darstellung ihrer selbst.“
Etwas verrätselt formuliert, aber der Gedanke traf mich wie ein Blitzschlag. Dass Musik über sich selbst nachdenken und sich selbst interpretieren kann. Und dass es aufregender wäre zu versuchen, solche Trillerketten zu verstehen, als sie spielen zu lernen.
Deshalb sitze ich heute vor einer anderen Tastatur und schreibe diese Zeilen. Dank Lotte Jekéli – und dank Ludwig van B.
Mit Beethovens Fünfte über die Golden Gate Bridge
Udo Badelt: Beethovens Fünfte war mein Soundtrack zum persönlichen Glück
Heute greife ich mir manchmal an den Kopf deswegen. Natürlich war es kitschig und auch ein bisschen peinlich. Aber hey, ich war 17 – und Austauschschüler in Amerika. Am Ende des Schuljahrs unternahm ich eine Grand Tour durch die Vereinigten Staaten mit dem Greyhound-Bus. Immer im Zickzack von Nord nach Süd. Und was war das Ziel all meines Sehnens?
Klar, die Golden Gate Bridge. Es muss was damit zu tun gehabt haben, dass San Francisco für junge Schwule damals ein Mythos war, so ähnlich wie Berlin heute, und überhaupt mit der geografischen Situation: Endpunkt, Sonnenuntergang im Ozean, danach geht es nicht mehr weiter.
Mein Soundtrack dazu war Beethovens Fünfte. Nicht das ikonische Anfangsmotiv, das man mal 50 Jahre wegsperren müsste, um es wieder mit frischen Ohren hören zu können. Sondern der Finalsatz.
Ich hatte Tränen in den Augen
Aus dunkel dräuendem Paukennebel schält sich, in triumphalem C-Dur, eine Tonika heraus, die innerhalb weniger Atemzüge auf C gipfelt, immer und immer wieder.
Orgiastisch. So musste das Glück klingen. Das trieb mir die Tränen in die Augen, das wollte ich – natürlich mit Walkman – hören, wenn ich endlich über die ersehnte Brücke laufen, nein: rennen würde.
Was soll ich sagen? Es kam genau so und war auch ziemlich schön. Ist ein paar Jahre her.
Die Fünfte höre ich immer noch gern, aber in San Francisco war ich schon lange nicht mehr.
Das Amerika von damals existiert nicht mehr
Es heißt, die Tech-Kids von Apple und Facebook würden Jahresmieten in bar auf den Tisch legen und die Immobilienpreise in Höhen treiben, in die kein C-Dur mehr hinreicht.
Silicon Valley hat die Seele der Stadt gekauft. Und im Weißen Haus regiert ein Lügner, den die Hälfte des Landes verehrt. Amerika ist für mich kein Sehnsuchtsziel mehr.
Kleine Sünden und große Lebensaufgaben
Eleonore Büning: Von der Pommes unterm Beethoven-Denkmal zur Doktorarbeit
Wer in Bonn aufwächst, kommt nicht an ihm vorbei. Zweimal wöchentlich nach der Musikschule sind wir nach Hause gelaufen, meine Freundin Dorothee und ich.
Das Straßenbahngeld hatten wir zuvor gemeinsam lustvoll vernichtet, in Form einer großen Tüte Pommes mit Mayo, eine verbotene Prasserei, die regelmäßig auf den Stufen zum Denkmalssockel am Bonner Münsterplatz stattfand, unter seinem Schutz, mit seinem Segen.
Mit Musik hatte das erst einmal gar nichts zu tun, eher mit dem Gefühl von Freiheit und Widerstand. Was die Musik betrifft: Im Flötenkreis spielten wir mehrstimmig alte Musik – Vivaldi, Gabrieli, Händel, Bach, Corelli.
Im Chor sangen wir Musik von Bach, Schütz oder Schein. Die von Beethoven erschien uns, sofern wir mit ihr von Konzert-Rabofsky konfrontiert wurden, etwas zu wuchtig.
Beethoven war für mich immer schon da
Eine der frühesten dieser Bonner Jugendabo-Erinnerungen ist ein elend langer Beethovenliederabend mit einer ziemlich schrillen Sopranistin. Eine andere ein Klavierrecital mit u.a. der Sonate op.31,2 d-moll, bei der ich in Tränen ausbrach.
Die Idee, unbedingt auch noch Geige lernen zu wollen, gab mir Mendelssohns Violinkonzert ein, nicht das Beethovensche. Meine Doktorarbeit über Beethoven schrieb ich später aus Interesse an der damals noch jungen Rezeptionsforschung.
Musik kommt darin zwar auf jeder Seite vor, aber nur als Beleg. Insofern müsste ich, würde ich danach befragt, mein persönliches Verhältnis zu diesem Komponisten als ein Nicht-Verhältnis bezeichnen. Er war nie etwas Besonderes. Beethoven war immer schon da.
Beethoven-Begeisterung in Japan
Frederick Hanssen: Mit Ludwig in Fernost
Zuerst ist es nur eine vage Bewegung im Augenwinkel. Dann wird langsam auch das Kichern hörbar. Während ich fasziniert eine shintoistische Tempelanlage bestaune, interessiert sich die japanische Mädchenklasse mehr für den fremden Touristen als für das Denkmal.
Eine nach der anderen lässt sich mit dem Europäer im Hintergrund fotografieren. Bis eine ganz Mutige die Kontaktaufnahme wagt – in der Hoffnung, zu einem Gruppenbild mit Deutschem zu kommen.
Es wird natürlich nicht verwehrt. Auf die Fragen der jungen Japanerinnen erklärte ich, dass ich mit dem Berliner Sinfonie-Orchester nach Tokio gekommen bin. Das heutige Konzerthausorchester spielt 1996 bei seiner 14-tägigen Japan-Tournee neun Konzerte in sieben Städten. Auf dem Programm stehen vor allem Werke Ludwig van Beethovens.
Beethoven! Ein Aufschrei geht durch die Schuluniformierten: Na klar kennen sie den!
Klassische Musik als deutscher Exportschlager
Gleich nach den Autos ist die klassische Musik der größte bundesrepublikanische Exportschlager – und Beethoven der Mercedes unter den Komponisten.
Jeder Veranstalter wünscht sich dessen Werke, wenn er deutsche Orchester für Gastspiele engagiert. Und weil immer mal wieder auch Musikjournalisten mitreisen dürfen, verdanke ich Ludwig fast alle Langstreckenflüge meines Lebens.
Auf dem Weg nach Japan, China oder Hongkong habe ich ihn verflucht, während endloser Stunden in der Luft. Bei den Begegnungen mit seinen Fans in Fernost aber waren alle Reisestrapazen sofort vergessen.
Beethoven und die Architektur
Nicola Kuhn: Dich, teure Beethovenhalle, grüße ich wieder
Mit Beethoven traktiert wurde ich nicht mehr als andere Bildungsbürgerkinder auch. Der strapaziöse Teil begann erst nach dem Verlassen des Elternhauses, während des Kunstgeschichtsstudiums in Köln.
Die Bonner Beethovenhalle wurde zur Erkennungsmelodie meiner großen Liebe, denn mein damaliger Freund schrieb seine Magisterarbeit darüber, und ich habe hingebungsvoll jede freudige Entdeckung eines kostbaren Details der 50er-Jahre-Architektur mit ihm geteilt.
Die großartige Schwingung des Daches, die geschickte Staffelung der Betonsäulen im Eingangsfoyer, die raffinierte Anlage des Gartens zum Rheinufer hin – noch heute kann ich mich für die Aufbruchsarchitektur der jungen Bundesrepublik begeistern.
Siegfried Wolske, der bei Scharoun studiert hatte, gewann den Wettbewerb 1954 mit gerade 29 Jahren, es war sein erster großer Entwurf.
Durch dick und dünn
Mit der Beethovenhalle ging ich fortan durch dick und dünn. Auf die Magister- folgte die Doktorarbeit zu Stadthallen in der Bundesrepublik als „gesellschaftliche Architekturleistung der Nachkriegszeit“. Auch sie las ich getreulich Korrektur.
Die Beethovenhalle war da von Berlin aus zwar in weitere Ferne gerückt, doch als ihr der Abriss drohte und mein mittlerweile Ehemann als Denkmalpfleger auf die Barrikaden ging, habe ich erfolgreich mitgefiebert, dass die Schönheit am Rhein erhalten blieb.
Nun haben die Bonner ein Problem, das wir in Berlin zur Genüge kennen. Die Sanierungskosten haben sich von 60,7 Millionen Euro auf 166 Millionen Euro erhöht; die für März 2019 vorgesehene Eröffnung ist auf 2022 verschoben. Die großen Feierlichkeiten zum Jubiläum des Namensträgers müssen andernorts stattfinden.
Beethoven als Qual für den Klavierschüler
Gregor Dotzauer: Heulen und Zähneklappern
Musikalische Größe ist für Kinder etwas Unbegreifliches. Sie können von Tönen verzaubert, ergriffen oder überwältigt sein: Was einen braven Tonsetzer von einem begnadeten Komponisten unterscheidet, lernen sie erst mit den Jahren.
Nichts ist dabei hilfreicher, als selbst ein Instrument zu spielen – und nichts ist gefährlicher. Die tiefe Lustlosigkeit, mit der ich als Acht- oder Neunjähriger durchs Flachland einfacher Mozart-Sonaten stolperte, während mir der eigene Vater die Finger zurechtbog, ließ sich noch vom Mythos des frechen Wunderknaben in Schach halten, den mir Rotraut Hinderks-Kutschers Jugendbuch „Donnerblitzbub“ vermitteln sollte.
Welche Art von biografischer Ermunterung außer Taubheit und Suizidgedanken, Heulen und Zähneklappern aber hatte Beethoven zu bieten?
Späte Offenbarung
Das Klappern der Dreiklangszerlegungen, die die linke Hand in der F-Dur- oder der G-Dur-Sonatine zu leisten hat, kam mir noch öder und quälender vor und hat für mich bis heute einen Zug ins Formelhafte.
Hätte ich das Zeug gehabt, den dritten Satz der Sonate Nr. 30, op. 109 auch nur notdürftig so zu spielen, wie er überschrieben ist, nämlich „Gesangvoll, mit innigster Empfindung“, Beethoven und ich wären sicher schneller Freunde geworden.
Erst das Symphonische, in dem es naturgemäß mehr rumste und wogte, schloss mir, der frühen Klavierhölle kaum entronnen, seine Welt auf. Auf dem Höhepunkt der Pubertät war ich bereit, neben vielen anderen musikalischen Rauschmitteln auch die späten Streichquartette zu mir zu nehmen.