Kultur: Klangbaumküsse
Musik der Zukunft: die Choreographie „Vier Elements – Vier Jahreszeiten“ im Radialsystem
Sie küssen und sie jagen sich, sie geigen im Laufen, im Liegen, auf Leitern, erproben exotischste Positionen, und schließlich werden sie eingeschneit. 25 Musiker ziehen weiße Tücher über sich, nun sitzt das Orchester da wie ein Museumsexponat, das vorm Staub geschützt werden muss. Wenn aber ein Ensemble der Verstaubung entgegenwirkt, dann dieses. Natürlich gibt es Vorläufer – aber noch nie hat sich eine ganze Gruppe szenisch so von der sicheren Seite hinter den Notenständern gelöst, sich so geöffnet wie die Berliner Akademie für Alte Musik. „Vier Elemente – Vier Jahreszeiten“ heißt ihr neues Projekt im Berliner Off-Kultur-Hotspot „Radialsystem“. Und schon die ersten Töne signalisieren Radikalität.
Aus dem Dunkeln schlagen die ungeheuerlichen Dissonanzen in den Saal, mit denen der Barockkomponist Jean-Féry Rebel das Chaos vertonte. Dieser Cluster ist hier symbolisch zum Stein verdichtet, der einem Tänzer den Mund versperrt und der Schöpfung den Beginn. Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola tanzt Rebels „Elemente“ als Frühlingsopfer und lässt die Musiker hinten noch anonym bleiben: Mächte, gegen die er sich aufbäumt und denen er folgt. Der 40-jährige Baske zeigt Kraft und Grenzen seines Körpers. Halb wollend, halb getrieben vereint er die Elemente, streut Erde, schnappt nach Luft, holt Feuer, lässt in einem flachen Wasserbassin spüren, dass eine Pfütze ein Ozean sein kann.
Aus seinem Körper geht Spannung in die Dramaturgie über, alles verbindend, Konvulsion und Kontrolle, Atemholen, Verspieltheit, Fesselung. Rebels Tanzsätze werden dabei nicht in ihrer Kleinteiligkeit, sondern ihren leuchtenden Farben deutlich, und in der finalen Chaconne entsteht ein Horizont, vor dem den Tänzer die Kraft verlässt. Totgetanzt. Der Frühling kann kommen mit Vivaldis „Jahreszeiten“. Auf Leitern formieren sich die Streicher zu Klangbäumen, und die Geigensolistin Midori Seiler wird Herrin, Spielzeug, Gespielin des Tänzers Esnaola. Wenn sie einander küssen und ein rotes Band sich zwischen ihren Mündern entspannt, spiegelt sich das in ebensolchen Paarungen der Musiker.
Sie laufen im Gewitter und liegen im Suff, sie bilden Kulissen für das Paar: Er ist ihr Pferd und ihr Jäger, rammt ihr Geigenbögen in den Rücken, bis ein Fächer von Speeren ihr Schmuck und Tod zugleich ist – und Midori Seiler spielt dabei wunderbar, nicht nur als Geigerin, auch in ihrer körperlichen und mimischen Präsenz. Das ist bei aller Akrobatik nicht Zirkus, sondern Poesie. Dass Intonation und Zusammenspiel mitunter leiden, ist zu verschmerzen. Problematischer wirkt, dass die barfüßigen Orchestermusiker, die bis in intimste Gesten hinein ihr gewohntes Terrain verlassen, dabei allein gelassen werden – mit ihren Körpern, die nun mal keine durchtrainierten Ausdrucksmittel sind.
Entweder müsste man ihre „Normalität“ thematisieren oder ihnen Klamotten spendieren, die sie davor schützen, sich übers Gewollte hinaus bloßzustellen. Man kann auch einen tapsigen Geiger optisch stützen, ohne ihn in Frack oder Kostüm zu stecken. Indessen zeigen solche Schwächen, was hier gewagt wird, wieviel noch zu überbrücken ist. Und die Spannung darin überträgt sich positiv – mit starken Bildern, von denen die rätselhaften vielleicht die besten sind. Im „Sommer“ stehen die Streicher einmal hinter der Solistin, die weißen Tücher auf den Köpfen erinnern entfernt an Vermeer, man ist verzaubert. Ein neuer Horizont zeichnet sich ab.
Radialsystem, wieder heute sowie am 27., 28. und 29. April, jeweils 20 Uhr
Volker Hagedorn
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