Die Berliner Philharmoniker und Corona: Kirill Petrenko fordert Lockerung der Abstandsregel
Orchester müssen eng beisammen sitzen: Die Berliner Philharmoniker und ihr Chefdirigent Kirill Petrenko kämpfen für mehr Nähe auf der Bühne.
Die kleinste gedankliche Einheit eines Orchesters ist das Paar. Jeweils zwei Streicher teilen sich ein Notenpult, gemeinsam mit weiteren Duos, die dasselbe Instrument spielen, bilden sie eine Gruppe, alle zusammen schließlich das so genannte Tutti. Damit eine Interpretation gelingt, ist Nähe also ein entscheidender Faktor. Die aktuell geltenden Abstandsregel für Musikerinnen und Musiker auf einer Bühne jedoch, 1,5 Meter zwischen den Streichern, mindestens zwei Meter zwischen den Bläsern, führen seinen Beruf ad absurdum, findet Kirill Petrenko, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker.
Und Olaf Maninger, Cellist und Medienvorstand des Orchesters, pflichtet ihm bei: „Die energetische Anbindung des künstlerischen Leiters muss bis zu den hintersten Pulten reichen können.“ Darum könne die Art von Aufführungen, die derzeit in der Philharmonie möglich sind, nur ein erster Schritt schritt sein, so Maninger. Als neue Normalität werden er und seine Kolleginnen und Kollegen diesen Zustand jedenfalls nicht akzeptieren.
Kultursenator Lederer kann hier nicht helfen
„Unsere Arbeit vollzieht sich vor allem in nonverbaler Kommunikation“, sagt Petrenko und vergleicht die Interpretation einer Sinfonie mit dem Flug eines Vogelschwarms gen Süden. Beides sind große Reisen, in beiden Fällen ist der körperliche Kontakt konstitutiv fürs Gelingen. Darum kämpfen die Berliner Philharmoniker hinter den Kulissen intensiv dafür, dass sich schnell etwas ändert an ihren Abstandsregeln.
Das Problem ist nur, dass die Klassikprofis es bei diesem Kampf mit einem Gegner zu tun haben, der nicht die geringste Ahnung hat von den Bedürfnissen der Branche. Berlins Kultursenator Klaus Lederer macht lediglich die Vorschriften für den Zuschauerraum und die Foyers. Für die Bühne ist der Arbeitsschutz zuständig. Die Unfallkassen aber setzten auf größtmögliche Absicherung ihrer Interessen und geben darum rigide „Handlungsempfehlungen“ heraus, denen man besser nicht zuwider handelt.
Intendantin Zietzschmann verhandelt mit dem Arbeitsministerium
Am Freitagvormittag, als Kirill Petrenko und Olaf Maninger bei einem Pressetermin im Foyer des Kammermusiksaals ihre Forderung nach einer Lockerung für Orchester erheben, hat Andrea Zietzschmann, die Intendantin der Philharmoniker, bereits ein Gespräch mit dem Staatssekretär von Arbeitsminister Hubertus Heil hinter sich.
Als „sehr, sehr zäh“ beschreibt sie die Verhandlungen – was um so unverständlicher ist, weil für Film und Fußball längst individuell angepasste Lösungen gefunden wurden. Derzeit läuft eine Studie von TU und Charité zur Verteilung von Aerosolen in der Philharmonie, bis Ende Oktober hoffen die Künstler auf Ergebnisse, die ihnen argumentativ helfen.
Eigentlicher Anlass der Pressekonferenz ist die Präsentation des „angepassten Konzertprogramms“ der Philharmoniker für die Monate November und Dezember. Corona hat nicht die Umplanung der Programme erzwungen – weil, siehe oben, maximal 67 Mitwirkende erlaubt sind – , sondern auch eine große USA-Tournee vereitelt. Stattdessen gastiert das Orchester nun in Köln, Frankfurt, Hamburg sowie Baden-Baden. Und auch die Berliner haben etwas davon: zwei Zusatzkonzerte, am 11. und 12. November, dirigiert von Kirill Petrenko.
Die USA-Tournee muss entfallen
Ab November rückt immerhin schon einmal das Publikum im Saal näher zusammen. 1000 Personen statt wie derzeit 630 dürfen dann anwesend sein, allerdings besteht eine Pflicht zum dauerhaften Tragen der Masken. Fast alle ursprünglich engagierten Gastkünstler werden kommen, die Geigerin Baiba Skride und der Pianist Seong-Jin Cho, ebenso die Dirigenten Ivan Fischer, Andris Nelsons, Tugan Sokhiev und Daniel Barenboim. Im Kammermusiksaal kann der im Frühjahr ausgefallene Beethoven-Marathon mit sämtlichen Streichquartetten nachgeholt werden, Simon Rattle hofft, mit dem Mahler Chamber Orchestra wie auch dem Chamber Orchestra of Europe nach Berlin reisen zu können.
Zu Silvester, sagt Kirill Petrenko, wird er das angekündigte spanische Programm nun sensibler und nachdenklicher gestalten, weil die spanischsprachige Welt besonders hart von der Pandemie betroffen ist. Und dann spricht der Chefdirigent noch von seinen großen Programmlinien, von seinem Bedürfnis, Kompositionen aus dem Schattenbereich des traditionellen Kanons ans Licht zu holen und Werke der Moderne als selbstverständlichen Teil des Repertoires zu etablieren.
Ein grandioser Abend mit Werken von Berg und Dvorak
Das Programm, das er gerade mit seinem Orchester einstudiert hat, ist da idealtypisch in der Kombination von Alban Bergs Violinkonzert von 1935 und Antonin Dvoraks kaum gespielter 5. Sinfonie. Absolut überzeugend gelingen beide Interpretationen am Donnerstag: So weich und geschmeidig spielt Frank Peter Zimmermann den Solopart des Violinkonzerts, dass alle Angst des Publikums vor der atonalen Musik sofort verfliegt.
„Dem Andenken eines Engels“ hat Berg sein Stück gewidmet und Zimmermann besingt die jung verstorbene Manon Gropius wirklich auf seiner Geige, mit größter Vertrautheit, beschwört ein Gefühl süßen Schmerzes herauf. Dazu vermag Kirill Petrenko eine Atmosphäre des Wienerischen zu kreieren, die ebenso natürlich zwischen Melancholie und Vorahnung changiert.
Vor purer Lebensfreude dagegen sprüht Dvoraks Fünfte, so wie der Philharmoniker-Chef sie präsentiert. Es ist wahrlich nicht das beste Werk des Tschechen, neben schönen Stellen gibt es auch läppische Passagen und rumpelige Momente, vieles bleibt Wirkung ohne Ursache. Doch Kirill Petrenko setzt sich mit so viel Charme, mit einer derart ansteckenden Begeisterung für dieses farbsatte, folkloristische Fabulieren ein, dass sich die Musikerinnen und Musiker gerne zu jedem noch so plakativen Theaterdonner mitreißen lassen und die allerherrlichste, heiterste Klangpracht entfalten.