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© Uwe Steinert

Deutsche Dialoge (2): Wie die Wende ins Kino kam

Die Filmemacher Dominik Graf (West) und Wolfgang Kohlhaase (Ost) sprechen über Mauerspringer und das Verschwinden der DEFA, die Liebe zum Volksschauspieler, die DDR als Sehnsuchtslandschaft – und darüber, was seit 1989 im Westen verschwunden ist.

20 Jahre Mauerfall: Wie hat die Wende die Künste verändert? Wie wurde das neue alte Deutschland zum Stoff für die Kreativen. Und sind die Künstler aus Ost und West einander seitdem näher gekommen? Unsere Reihe von Ost-West-Dialogen wird heute von dem Münchner Filmemacher Dominik Graf und dem Berliner Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase fortgesetzt. Graf drehte nach der Wende mehrere TV-Krimis in der DDR und brachte 2004 den Kinofilm „Der rote Kakadu“ heraus, der 1961 in Dresden spielt und von der Aufbruchstimmung in der DDR unmittelbar vor dem Mauerbau erzählt.  Wolfgang Kohlhaase arbeitet heute unter anderem mit Andreas Dresen zusammen („Sommer vorm Balkon“ und „Whisky mit Wodka“, der am 3. September startet); er war einer der bedeutendsten Defa-Drehbuchautoren und  schrieb unter anderem das Buch zu Konrad Wolfs „Solo Sunny“. Das erste Ost-West-Gespräch führten die Fotografinnen Herlinde Koelbl und Ute Mahler.

Herr Graf, Herr Kohlhaase, vor 20 Jahren fiel die Mauer. Wie weit weg ist das Ereignis, wie nah ist es Ihnen noch?

DOMINIK GRAF: In gewisser Weise ist es wie gestern, nur dass die kulturelle Blockbildung sich verlagert hat. Wenn Ost und West zwei sich feindlich gegenüberstehende Lebens-, Denk- und Kulturformen waren – eine Prämisse, über die man streiten kann -, dann haben sich diese Blöcke wie zwei tektonische Platten ineinander geschoben. Heute gibt es den östlichen Wessi und den westlichen Ossi, auch beim Film. Geblieben sind unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man Deutschland darstellen kann, auch von Film- und Fernsehunterhaltung. Ich glaube, wir lachen bis heute unterschiedlich.

WOLFGANG KOHLHAASE: Für viele von uns, die wir aus der DDR kamen, war der Realitätswechsel ein Problem, meist ein stilles, kein lautes Problem. Mancher Kollege hätte nach dem Mauerfall noch viel zu erzählen gehabt, aber mit dem Ende der DDR war das Thema plötzlich weg. In der DDR konnte man bestimmte Filme nicht machen, nun musste man sie nicht mehr machen. Weil alle mit den neuen Erfahrungen beschäftigt waren. Der Rückblick hatte wenig Anhänger.

Wie ist es Ihnen denn gelungen, als Drehbuchautor weiterzumachen?

KOHLHAASE: Ich fragte mich damals weniger, wie ich jetzt praktisch weitermache, als: Wem erzähle ich warum welche Geschichte? Das hat mich ein paar Jahre beschäftigt, mit dem bescheidenen Resultat, dass ich ungefähr so weiterarbeite wie vorher. Ich versuche, niemandem gefällig zu sein. Man kann sich nicht beliebig ändern. Das damals prognostizierte Ende der Geschichte ist ja nicht eingetreten, die Geschichte geht weiter, als großes unbekanntes Abenteuer. Und der östliche Gesellschaftsversuch ist ja nicht gescheitert, weil die Gründe für den sozialistischen Weltverbesserungs-Entwurf aus dem 19. Jahrhundert sich erledigt haben. Die Gründe sind noch da.

Andreas Dresen hat in der „Zeit“ geschrieben, es gebe keine vereinte Filmnation. Der DEFA-Film ist untergegangen,  die westliche Filmindustrie ist  übrig geblieben.

KOHLHAASE: Die Wende bedeutete den Wechsel von einer Geschwindigkeit in eine andere. Die Welt lebt in verschiedenen Geschwindigkeiten. Das Kino wurde in der DDR und in Osteuropa ja subventioniert wie die Oper; der Staat war der Produzent, der seine Interessen bekunden konnte. Das Kino in eine Art Erziehungsanstalt zu verwandeln, das war aber ein zu schmaler Gedanke, obwohl er zuversichtliche Anhänger hatte. Die staatlich finanzierte Produktion war aber wiederum ökonomisch die einzige Möglichkeit, Filme zu machen. 17 Millionen DDR-Bürger oder 10 Millionen Ungarn, in so kleinen Ländern konnten sich Filme nicht amortisieren.

GRAF: Im Westen ist nach dem Fall der Mauer auch einiges untergegangen, was bis dahin eine langsamere Geschwindigkeit hatte. Untergegangen nicht wegen der Wende, sondern weil man die Wende zum Anlass für eine groß angelegte Neustrukturierung nahm. Alles, was im Fernsehen nicht mehr ins großdeutsche Format zu passen schien, wurde abgeräumt und abgeschafft.

Was zum Beispiel?

GRAF: Unmittelbar nach der Wende brachen sich ja allenthalben Ordnungswünsche Bahn, nach dem Motto: Wenn wir die Ex-DDR auf Vordermann bügeln, können wir bei uns gleich weitermachen. Die Kommerzialisierung der Staatsbetriebe, denken Sie an die Telekom-Katastrophe. 1989 ist nicht nur die Mauer gefallen, sondern auch eine Zurückhaltung, ein Respekt gegenüber der alten BRD-Kultur. Von den Hochschulen bis zum öffentlich rechtlichen Fernsehprogramm, alles wurde von Funktionärsgremien und Marktforschern neu mit Stahlschienen durchstrukturiert. Diesem Umbruch fiel auch die teils noch wunderbare Brachlandschaft des westdeutschen Films zum Opfer, in der manchmal exotische, provinziell gefertigte Wunder entstanden waren. Die TV-Sender schafften ihre grandiosen, widerständlerischen Film-Redaktionen ab. Überall entstanden stattdessen sinnlos neue Filmhochschulen, um den gesamtdeutschen Film jetzt auf  Weltniveau zu hieven - auch damit sich Kultusminister sozusagen beim Spatenstich mit dem Schampus in der Hand fotografieren lassen konnten.  Heute entlassen diese Schulen pro Jahr circa 80 Regisseure in eine Branche, die über Geldmangel klagt. Die arbeitslosen Regisseure von heute und morgen grüßen schön.  Nach 1989 ist in Ost wie West das Augenmaß kaputtgegangen.

Herr Graf, Sie haben von 1974  bis 1979 an der Münchner Filmhochschule studiert. Bekamen Sie dort DEFA-Filme zu sehen?

GRAF: Überhaupt nicht, Null. Kann sein, dass „Der geteilte Himmel“ von Konrad Wolf mal im ZDF-Nachtprogramm lief. Die Berlinale war voll von osteuropäischen Filmen, aber diese verdienstvolle Bemühung hat der Wessi mit Missachtung gestraft. Bei mir war das Interesse erst geweckt, als ich plötzlich merkte, da geht etwas komplett unter. Erst ab Mitte der Neunziger, während des sichtbaren kulturellen Verfalls der osteuropäischen Filmkulturen, begriff ich zum Beispiel etwas von der ungarischen Filmschule der Sechziger, die nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands von 1956 entstanden war. Auf dem Filmfest Saarbrücken hatte ich 1986 immerhin „Ete und Ali“ von Peter Kahane mit Jörg Schüttauf gesehen. Das war eine sich wunderbar selbstgenügsame, schlichte Erzählung von einer Freundschaft, ein von Bedeutungsballast befreiter, alltäglicher, normaler Ton. Da hab ich aber aufgehorcht, etwas Ähnliches versuchten ich und andere in der BRD damals ja auch.

„Solo Sunny“ von Konrad Wolf und Kohlhaase kannten Sie nicht?

GRAF: Doch, ich fand ihn toll, auch die  Wiederaufführung von „Spur der Steine“ hat mich völlig überrascht. Ich habe alles erst im Nachhinein entdeckt, die großartigen Menschenbilder, die Dialoge, Manfred Krug, die starken Frauen, die ihr Herz formulieren konnten. Eine solche Direktheit gab es bei uns im Westen nicht, das war alles viel weniger verklemmt und verklausuliert.  Bei uns gab es – außer Götz George – diese Art Volksschauspieler seit den 50er Jahren mit ihren Komödien und Heimatfilmen nicht mehr. Wir hatten nur noch Mimen.

KOHLHAASE: Die DEFA hatte die wunderbaren Ostberliner Theaterschauspieler. Als Ekkehard Schall noch vor seiner Karriere bei Brecht mit Gerhard Klein  „Berlin, Ecke Schönhauser“ drehte, spielte er merkwürdige Pausen, machte merkwürdige Gesten. Kurioserweise sind genau diese Manierismen heute interessant.  Die Form überlebt, der Inhalt ist irgendwann nur noch eine Information.

Was war so schlimm daran, wenn die Darsteller von der Bühne kamen?
 
GRAF: In den frühen 70er Jahren konnte bei uns kaum einer sich vor der Kamera normal ein Bier bestellen, es hatte immer alles monologische Ansätze. Meine Generation wünschte sich, glaube ich, dass die Figuren einem im Alltäglichen näher kommen, sie sollten die eigenen Understatement-Sprüche draufhaben, das eigene Lebensgefühl. Dem Autorenfilm mit der Schauspieler- Künstlichkeit konnte man wenig abschauen. Und dann sah ich eben einen Film wie „Ete und Ali“, in der die Protagonisten wie frei von der Leber weg eine ganz andere Schauspielertradition demonstrierten. Seltsamerweise hat dieser mit einer hohen Glaubwürdigkeit gepaarte Volkston, der zu ganz alten UFA-Zeiten bei Leuten wie Gustav Knuth und Konsorten ("Unter den Brücken" etc.) existierte, ausgerechnet in der DDR überlebt.

KOHLHAASE: In der DDR war das Kino an der Realität interessiert. Die Politik war aber auch an der Realität interessiert. Wenn die Kinobilder nicht mit den Wunschbildern der Politik übereinstimmten, gab es Konflikte.  Man sagt, der Dichter lügt am wenigsten, wenn er dichtet. Das meint wohl, Talent oder eine sinnliche Nähe zur Welt kann jemand zwingen, wahrhaftig zu sein. Die frühen DEFA Filme stellten auch Fragen an die deutsche Geschichte, die ich selbst hatte. Das gab es wohl hier wie dort - man denke nur an Helmut Käutner.      GRAF: Aber selbst Käutner fing sofort nach dem Krieg an zu verklausulieren. Der Heimatfilm und der nachfolgende Autorenfilm sind sich nicht unähnlich in ihren stilisierten Deutschlandbildern. Am stärksten ist es bei Fassbinder, der dann aber diese Künstlichkeit als solche ausstellte: Seht, so verdreht, so verkrampft ist die Bundesrepublik! Im Osten dagegen entstand gleichsam mit links, worum man sich im Westen zumeist vergeblich bemühte: Natürlichkeit.

Kannte man in der DDR denn umgekehrt Fassbinder, Kluge oder Wenders?

KOHLHAASE: Wir bekamen das oft später zu sehen, im Fernsehen, oder wenn Westkollegen zu Besuch kamen. Margarethe von Trotta,  Volker Schlöndorff, Wilm Wenders oder Bernhard Wicki zeigten in den späteren Jahren ihre Filme in der Akademie der Künste, das waren volle Abende.  Manchmal gab es auch interne Vorführungen von amerikanischen oder französischen Filmen, wenn der Außenhandel überlegte,  ob er einen Film einkaufen soll. Jährlich liefen 40 bis 50 Filme aus dem westlichen Ausland, um das Programm zu vervollständigen. Das war aber selten die aktuelle kontroverse Kinokunst, sondern eher das, was bei der eigenen Produktion fehlte, Western zum Beispiel.  In jedem Fall gab es wohl mehr Interesse des kleineren Landes am größeren als umgekehrt.

Wo haben Sie denn Gemeinsamkeiten wahrgenommen?

KOHLHAASE: Als die westdeutschen Autorenfilmer das Oberhausener Manifest formulierten, hatte ich das Gefühl, wir kommen uns näher. Die machen jetzt auch die Haustür auf und lassen den Alltag herein. In der DDR hatten Filme wegen des Defizits an öffentlicher Diskussion ja oft ohnehin eine besondere Bedeutung. Wenn sie zur Sprache brachten, worüber man öffentlich zu wenig redete, dann gab es in diesem kleinen Land ein großes Publikum.  DEFA-Filme waren zuweilen hilflos, mit Didaktik beladen, aber sie waren nie vorsätzlich trivial.

Noch einmal, wo sind die DEFA-Filmer geblieben? Wolfgang Kohlhaase schreibt Drehbücher für Andreas Dresen, das ist es schon. Etliche Filmschaffende aus dem Osten sind gestorben, Frank Beyer, Ulrich Plenzdorf, Lothar Warneke. Und viele, vor allem die mittleren Jahrgänge, Leute wie Rainer Simon oder Peter Kahane, sind einfach verschwunden.

GRAF: Ein paar DEFA-Regisseure haben in den Neunzigerjahren zunächst an westdeutschen Hochschulen unterrichtet, sich jedoch nicht halten können.

KOHLHAASE: Kürzlich kam sehr wohl ein neuer Film von Peter Kahane ins Kino, "Meine schöne Nachbarin". Die Filmszene hat aber viel von einem geschlossenen Verein. Da startet ein Film mit 12 Kopien, kommt donnerstags raus, ist Montag wieder weg. In der Off-Szene entsteht Talent, aber auch viel Beliebiges. Im Dunkel der Erfolglosigkeit umarmen die Genies die Dilettanten.   

GRAF: Es wird viel produziert in Deutschland, soviel wie nie zuvor. In dieser gewollten Überproduktion – weil der deutsche Film auf Teufel komm raus eine große Industrie sein will – werden Biografien beiseite geschoben und Talente verheizt, das gibt es in Ost wie West. Ich schäme mich fast, wenn ich bedenke, wie viel Unfug ich bei meinen Anfängen  machen durfte. Die Chancenlosigkeit des heutigen Nachwuchses am Ausprobieren ist ungerecht. Einen Film haben sie - und der muss es dann sein. Sonst wird’s schwer.

Wie war das denn, als Sie anfingen, Herr Kohlhaase?

KOHLHAASE: Im Februar 1945 habe ich „Kolberg“ gesehen: Wir sind die Nibelungen, unsere Welt geht zugrunde - dagegen wehrte man sich schon aus biologischen Gründen. Drei Monate später kam die Rote Armee mit den berühmten sowjetischen Filmen der 30er Jahre im Koffer, ein Jahr später sah ich „Die Kinder des Olymp“, und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Als dann die Neorealisten aus Italien auftauchten, wusste ich: Film ist doch nicht nur beritten, nicht nur symphonisch. Die Geschichten von der Ecke lassen sich ja auch erzählen. Damit waren jener Stalin, der gelegentlich im weißen Anzug an der Spitze eines Panzerzuges fuhr, und diese Art von Bilderbogen-Ästhetik passé.  Hinzu kam, dass wir als Anfänger Angst vorm Atelier  hatten. Wir dachten, im Studio sitzen die Bescheidwisser, während uns auf der Straße niemand über die Schulter sieht.

GRAF: Das ist ein gewaltiger Unterschied. Der westdeutsche Film der 50er Jahre wurde noch komplett im Studio gedreht. Erst die Verfasser des Oberhausener Manifests erprobten zeitgleich mit dem Aufkommen des 16-Millimeterfilms auch eine neue Ästhetik auf der Straße.

KOHLHAASE: Die DEFA saß in den ehemaligen UFA-Studios in Babelsberg und verstand sich als politische und moralische Alternative zu dieser Vergangenheit, hatte deshalb jedoch  nicht automatisch eine neue Ästhetik. Mit unserem unbekümmerten Halbdokumentarismus waren wir ja nur eine Strömung innerhalb der DEFA, wenn auch eine begrüßte. Gerhard Klein, der Regisseur, mit dem ich „Berlin, Ecke Schönhauser“ und fünf andere Filme gemacht habe, ließ sich im Atelier eine Zimmerdecke konstruieren. Nicht weil die Decke gefilmt werden sollte, sondern weil ein wirkliches Zimmer ja auch eine hat und Schritte darin anders klingen. Solche puristischen Haltungen haben wir eine Zeitlang gepflegt. Realismus war eine Grundverabredung.   

Sie haben auch unter den Bedingungen der Zensur gearbeitet. Wie sind Sie damit zurechtgekommen?

KOHLHAASE: Film entsteht, anders als die individuell verfertigten Künste, immer mit dem Geld anderer Leute, ob dieses Geld nun vom Staat verwaltet wird oder nicht. Die sensibelste Form von Zensur ist mangelndes Interesse, mangelnde Ermutigung. Du kommst mit einer Herzensidee und kalte Augen blicken dich an.

GRAF: Da ist es dann egal, ob es sich um einen DDR-Funktionär handelt oder um einen Studioboss der MGM ...

KOHLHAASE: … oder ob dir heute jemand erklärt, was der Markt von dir erwartet. Es gab Wellenbewegungen, die große Politik spielte immer in die Kulturpolitik hinein. Wir sagten manchmal: Es gibt wenig Kartoffeln, wir werden große Kunstdiskussionen haben. Aber natürlich gab es in der Politik auch Leute, die etwas anderes vom Film erwarteten als angenehme Bilder. Das Debakel in den 60er Jahren, als mit „Spur der Steine“ zehn Filme im Tresor verschwanden, hatte ja die Kehrseite, dass diese Filme vom Staat selbst produziert worden waren.  Die Filme wurden verboten, aber der Minister musste auch gehen.

Und wie waren ab 1990 Ihre ersten Erfahrungen mit der anderen Hälfte der Filmnation?

KOHLHAASE: Ich bin ja immer hier in Berlin geblieben. Die Ostwest-Gegensätze kannte ich aus der Zeit vor dem Mauerbau, als die Stadt noch wild und offen war. Dann war sie sozusagen narkotisiert, dann wieder offen. Auch als Schlöndorff „Die Stille nach dem Schuss“ drehte, fühlte ich mich eher  zuständig für den Teil, der in der DDR spielte. Bis heute würde ich mir nicht zutrauen, eine Geschichte zu schreiben, die in München spielt.

Herr Graf, als Sie nach dem Fall der Mauer im Osten gedreht haben, TV-Krimis und zuletzt 2004 den Kinofilm „Der rote Kakadu“, der zur Zeit des Mauerbaus in Dresden spielt – was war anders als im Westen?

GRAF: Ich gehörte zu den Westlern, die den Osten nur von der Transit-Autobahn kannten. Meine Idee von der DDR beschränkte sich auf die Leipziger Tiefebene, auf Nebelfahrten und den Schriftzug „Plaste und Elaste aus Schkopau“. Und genau das verschwand gerade, als ich 1992 in der Nähe von Leipzig den Treuhand-Thriller „Morlock“ mit Götz George drehte. Ich hatte das Gefühl: In dem Augenblick, in dem ich dieses Land nun betreten darf, zieht es sich wie erschrocken zurück, wegen des Hordenkapitalimus, von dem es damals heimgesucht wurde. So ging es mir jedes Mal, wenn ich dort drehte: Ich wollte etwas bewahren, was gerade kaputt gemacht wurde – und sei es nur mein privates sentimentales Bild von der DDR. 

Die DDR als Sehnsuchtslandschaft? Erst ignorieren wir Westler die DDR, dann interessieren wir uns nur für unsere romantische Vorstellung von ihr. Der erste große Film über den Mauerfall war Margarethe von Trottas „Das Versprechen“, der ist 1995 bei der Berlinale schrecklich durchgefallen. Später  gab es die Ostalgie-Welle mit „Sonnenallee“ und „Good Bye, Lenin!“, schließlich das Stasi-Drama „Das Leben der Anderen“.

GRAF: Der Blick auf die Zeit, in der man als Westler nicht im Osten sein durfte, wurde ab 1990 von vielen Deutungsinstanzen verstellt. Es hat auch mich überrascht, dass so viele westdeutsche Regisseure Ostfilme drehten. Vielleicht war es Trotz: Alle sagten einem, du warst nicht dabei, also halt den Mund. Das habe ich auch bei „Der rote Kakadu“ erlebt. Die Alternative zu einer subjektiven Geschichtswahrnehmung sind dann wohl die von Historiker-Quartetts abgesegneten TV-History-Dramen. Über die Nazi-Zeit gibt es viele davon: Schullektionen über unsere Vergangenheit mit Zeitzeugen für die behauptete Authentizität.  Aber dass es auch eine innere Realität, eine innere Wahrheit gibt, das ist uns im Umgang mit deutscher Geschichte nicht geläufig.  Wegen der kreischenden Forderung der Buchstabentreue ist sehr viel in unserer deutschen Geschichtslandschaft noch gar nicht erkundet – nicht nur die Ost-West-Themen.

Interessant: Der Westler wollte sich die DDR filmisch aneignen, der Ostler sagt, er könnte nie in München drehen. Herr Kohlhaase, wie finden Sie die denn die Filme der Westdeutschen über die DDR?

KOHLHAASE: Ich sage gerne scherzhaft, am genauesten wird mir die DDR von Leuten aus dem Schwarzwald beschrieben. Wenn man etwas nicht gut kennt, verkürzt man und greift auf Klischees zurück, auf versteinerte Formen der Realität. Es gibt schon eine Art filmischen Problemtourismus. Wir zeigen doch nur, wie es war, heißt es dann oft. Aber das ist ein zu bescheidener Ansatz für einen Spielfilm. Die Wirklichkeit ist immer auch das, was man nicht sieht. Ich muss zehnmal mehr wissen über eine Sache, von der ich erzähle, schon damit ich weiß, was ich weglassen kann. „Good Bye, Lenin!“ erlaubte immerhin einem großen Publikum in Ost und West, miteinander zu lachen und nicht übereinander.

Und wie ging es Ihnen mit „Das Leben der Anderen“?

KOHLHAASE: Das Kino schuldet dem Zuschauer nicht die minutiöse Rekonstruktion von Tatsachen, sondern einen Vorschlag an die Vorstellungskraft. Dieser Film hat ein brauchbares und wirksames Motiv: „Aus Saulus wird Paulus“. Die Details sind nicht so verlässlich. Die Kolportage hat ihre Regeln, wenn sie aus Wirklichkeit Unterhaltung fabriziert. Aber dieser Film liefert die Kolportage, als wäre sie wahr, an die unerledigte Wirklichkeit zurück, die damit nicht beschrieben ist. Sich anhand von „Casablanca“ den Zweiten Weltkrieg erklären zu lassen, das wäre doch auch  problematisch. 

GRAF: Wobei „Casablanca“ einem aber signalisiert, dass man den Film nicht zu ernst nehmen sollte. Es gibt eine klare Genreverabredung. Dem Stasi-Offizier als gewendetem Engel in „Das Leben der Anderen“ haftet dagegen ein „Das war möglich! “-Authentizitätsgehabe an. Der Film möchte Recht haben, das macht ihn unglaubwürdig.

Gibt es aktuelle deutsch-deutsche Ereignisse oder Figuren, bei denen Sie als Filmemacher denken, das ist ein Kinostoff? Der Westberliner Polizist und Stasi-IM Karl-Heinz Kurras zum Beispiel?

GRAF: Ich bin kein 68er, aber als die Debatte jetzt losging, dachte ich sofort,  es wird wieder heißen, man muss die Geschichte von 68 umschreiben. Ich glaube da eher Klaus Wagenbach, der sagt, dass kaum ein 68er die DDR als Wunschland betrachtet hat, auch wenn sie Leute wie Röhl mitfinanzierte.  Man fand die DDR deshalb noch lange nicht toll, sagt er. Es geht doch auch eher darum, was nach dem Kurras-Mord passierte: Die westdeutsche, die Berliner Gerichtsbarkeit tat das, was sie damals oft tat. Sie stellte sich auf die Seite des Unrechthabenden, in diesem Fall des Totschlägers Kurras. Nein, das ist kein neuer Filmstoff, alles ist altbekannt.

KOHLHAASE: Montaigne hat gesagt, ich lehre nicht, ich erzähle. Wenn ich also etwas nur Politisches loswerden will, dann kann ich es ja direkt sagen. Oft schreibe ich so etwas wie kleine Prosa: Die Leute, von denen ich im Film zu erzählen versuche, sind letztlich meine Nachbarn. Mit denen ist im Lauf der Jahrzehnte so viel geschehen, so viel Unglaubliches, so viel Banales, und vielleicht hat jeder in seinem Leben einen Augenblick, der es verdient, bemerkt zu werden. Man sieht aus dem Fenster oder in den Spiegel, die Weltgeschichte kommt dann schon vorbei. Und solange die Leute sich Geschichten erzählen und einander zuhören, gibt es Menschlichkeit.

Das Gespräch führte Christiane Peitz.

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