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Mondkalb
© dpa

Spielfilm: Werben um die Niemandsfrau

Ersatzfamilienaufstellung: Sylke Enders strapaziert in „Mondkalb“ die Kunst des Weglassens.

Alte Wunden, alte Narben: Besser manchmal, man guckt nicht hin, im Leben. Besser oft auch, man stellt sie nicht zu sehr aus, im Kino, wo eine Geschichte erzählt sein will, die vorangeht, irgendwie voran. Ein Flash genügt, Rückblende für eine Vierundzwanzigstelsekunde, und schon entsteht die nötige Ahnung, die die Charaktere grundiert – Fantasie und Erfahrung des Betrachters füllen klug gesetzte Lücken schon aus.

Weit wagt Sylke Enders sich in ihrem dritten Spielfilm ins Weglassen. Gefährlich weit. Nur die Oberfläche vergangener Katastrophen stellt sie hin – eine lange Gefängnisstrafe, ein Freitod –, die Ursachen lässt sie fast völlig beiseite. Und erfindet sich in ihrem Drehbuch lieber mit aller Macht ein schicksals- und schmerzensgeplagtes Trio, das vorsichtig zusammenkommen möge. Wenig ist ja tröstlicher im Kino wie im Leben als Leute, die sich gemeinsam aus Dunkelheiten aufraffen – mit einer Energie, zu der sie alleine nie fähig wären.

Niemann heißt die stille Heldin von „Mondkalb“, aber wenn sie Leuten ihren Namen nennen muss, Alexandra Niemann, dann klingt das wie: Niemand. Und niemand will diese Alex sein und bleiben in der Kleinstadt im Osten, in der sie neu anfängt als Chemielaborantin nach sechs Jahren Knast. Nicht vergessen auch will sie, dass sie ihren Mann niedergeschlagen hatte damals, zehn Platzwunden am Kopf, erst recht nicht, dass die inzwischen 15-jährige Tochter jeden Kontakt verweigert. Sondern darüber hinwegkommen, ziemlich für sich.

Wäre alles ein schönes Menschenstillleben, da draußen im Häuschen ihrer verstorbenen Großmutter, wenn nur Piet Hatzky, der örtliche Fahrlehrer, nicht wäre und sein 12-jähriger Sohn Tom. Die beiden stellen Alex nach, erst Tom, dann Piet: Eine fast bäurisch behäbige Hatz ist das, ein Werben um Nähe, vielleicht Liebe. Piet ist ein ganz Lieber und ganz Klebriger, Tom dagegen steht plötzlich stummverstockt rum in Frau Niemandsfraus Wohnküche und will und will nicht gehen. Könnte sein, dass da eines Tages eine Zukunft ist, nach vierjährigem Stillstand, seit Piets Frau sich das Leben genommen hat; könnte sein auch, dass der Junge sich als Liebesstifter entpuppt, hübscher Amor und scheuer Blicktauschvermeider hinterm langen Haar, der sich da eine neue Mama zaubert und dem Papa eine neue Frau.

Lauter gute Menschen, oder? Die sanfte Alex: Zu welchem Äußersten muss sie getrieben worden sein, damals. Der patente Piet und sein verlorener Sohn: Wie tapfer kommen die beiden mit dem schweren Verlust zurecht. Eine Zeitlang beeindrucken die Lakonie der Geschichte und das fein sich entspinnende Beziehungsgeflecht – im großartig hochspannungszitternden Fastdauerschweigen von Juliane Köhler, im beiläufigen und doch unvermutet ernsthaften Gequassel, mit dem Axel Prahl seinen Piet polstert, und mit Leonard Carow als Drittem im Ersatzfamilienbunde. Alles ist gut? Nicht doch, alles wird gut, und das ist die Hauptsache.

Aber dann. Zwei lang ausgespielte Szenen genügen, und die Vergangenheit holt die Figuren mächtig ein. Nur, dass Sylke Enders, und das erweist sich nun als fatal, noch immer auf die Lücke setzt, auf die fragile Tragik des Unausgesprochenen. Wer aber ist eigentlich jener Piet, der da zweimal so brutal mit den Fäusten auf den Sohn eindrischt, was für ein gewalttätiger Ehemann auch mag er gewesen sein, damals? Und warum hält Alex, die fühlbar Buße tut und ihr eigenes Verbrechen verarbeitet, nach kurzem, immer noch introvertiertem Protest zu diesem Schläger mit System?

Nein, kein Happyend, das versagt sich die glückssüchtige Dramaturgie denn doch. Nur fast, und das ist schon zu viel. Denn Väter, die ihre Kinder schlagen, verdienen weder Mitleid noch Liebe, im Kino nicht und nicht im Leben.

Hackesche Höfe, Kant, Rollberg

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