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Science-Fiction-Film: Was wäre gewesen, wenn?

Vom Abenteuer der freien Wahl: Jaco van Dormaels berauschende Vision „Mr. Nobody“ erzählt die Geschichte des letzten Sterblichen im Jahr 2092.

Die Geschichte eines Lebens, so wie wir es kennen, kann im Jahr 2092 nur noch Nemo Nobody erzählen, ein steinalter Mann, gespielt von Jared Leto. Nemo Nobody ist der letze Sterbliche in Jaco van Dormaels Science-Fiction-Film „Mr. Nobody“. Mittlerweile hat die Wissenschaft Fortschritte gemacht, Zellen erneuern sich immer wieder. Die biologische Uhr hat keine Bedeutung mehr. Schöne neue Welt, unendliches Leben in einer klinischen Umgebung. Nemo befindet sich in einer Truman Show, die Kameras senden rund um die Uhr und übertragen, unterbrochen nur von Werbe-Einspielungen, seine letzten Stunden.

Brennend interessiert sich ein Reporter für ihn. Wie war es damals in deiner Kindheit, in deiner Jugend, als junger Erwachsener zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Wie es wirklich gewesen ist, erfahren die Menschen nicht, dafür aber, wie es hätte sein können, was geworden wäre, wenn ... ja wenn, sich Nemo an den wichtigen Punkten seines Lebens anders entschieden hätte, wenn der viel zitierte Flügelschlag eines Schmetterlings einen anderen Lufthauch in Bewegung gesetzt hätte, wenn der Zufall es anders gewollt hätte, wenn String- und Chaostheorie, wenn Big Bang und Entropie diesen oder jenen Effekt gezeigt hätten, wenn parallele Leben möglich wären in verschiedenen Raum-Zeit-Kontinuen. Und vor allem: Wie würde die Zukunft beeinflusst, wenn sich ein Mensch eben nicht entscheiden würde? Wäre er dann – zumindest emotional – auf der sicheren Seite?

Mr. Nobody ist erst der dritte Spielfilm des belgischen Regisseurs Jaco Van Dormael – sein zweiter, der in Cannes gezeigte und für den Oscar nominierte „Am achten Tag“, liegt bereits 14 Jahre zurück. Nicht weniger als der Versuch einer Welterklärung ist dabei herausgekommen, der Versuch, die Komplexität eines Lebens in knapp zweieinhalb Stunden zu erzählen – mit zahlreichen Verweisen auf Wissenschaft, Philosophie, Esoterik, Kunst- und Filmgeschichte, und das, ohne das Thema dabei spröde erscheinen zu lassen.

Zu Beginn: düstere Sterbeszenarien. Nemo ertrinkt im Auto, er wird erschossen, er liegt als alter Mann auf einem Sterbebett, danach führt die Reise in die Zeit vor der Geburt, in einen grellen Kitschhimmel voller Einhörner und den „Engeln des Vergessens“, ehe der Film zu einer Coming-of-Age-Geschichte wird. Mit neun Jahren muss sich Nemo entscheiden zwischen seinem Vater und seiner Mutter, die sich trennen – eine Entscheidung, die zu groß ist für einen Knirps und doch sein künftiges Leben massiv beeinflussen wird.

Im Zentrum des Films stehen drei Liebesbeziehungen, drei mögliche Lebenswege Nemos mit drei verschiedenen Frauen: gelangweilt, aber reich mit der farblosen Jean (Linh Dan Pham), überfordert, aber erfolgreich mit der depressiven Elise (Sarah Polley), einer „Frau unter Einfluss“ – oder aber arm und immer auf der Suche nach der einen großen, scheinbar vorherbestimmten Liebe Anna (Diane Kruger), einer Amélie, die ihm doch immer wieder entgleitet. Van Dormael erzählt diese Geschichten nicht linear, nicht chronologisch. Die Stränge verschränken sich, zweigen ab, gleiten in- und auseinander und unterscheiden sich in Farbgebung und Tonfall. Die fließende Kamera fährt durch Gemälde, Briefe, Fotografien, in artifizielle Welten, durch Träume und Phantastereien ins Weltall und zurück in die Realität des Augenblicks.

Visuell ist das extrem beeindruckend. Beinahe ein Wunder ist es jedoch, dass der Zuschauer bei all diesen Fragmenten, Verweisen, Assoziationen und Wendungen den Überblick behält, wobei das konkrete Verstehen gar nicht so wichtig ist. Der Film ist traurig und lustig, melancholisch und kitschig, enervierend und unterhaltend, nichts oder alles. Auf dem Sterbebett lacht sich der große Geschichtenerzähler Nemo Nobody beinahe tot. Ja, vielleicht war der Film, ist unser ganzes Leben, ist alles nichts weiter als ein guter Scherz.

Filmkunst 66 und Kulturbrauerei;

OmU im Central und Neuen Off

Karl Hafner

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