Doku-Fiction: Mit dem Auto übers Eis
48.000 Kilometer: „Fräulein Stinnes fährt um die Welt“, ein Filmexperiment von Erica von Moeller.
„Irkutsk möchte ich im Leben nicht mehr sehen“, stöhnt der schwedische Fotograf Carl-Axel Söderström (Bjarne Henriksen). Drei Monate hatte der Winter die Reisenden in diesem Drecksnest festgehalten, Weihnachten und Silvester in einer Holzhütte, bei Temperaturen von minus 53 Grad. Doch die wahren Strapazen stehen noch bevor: Mit dem Auto quer über den zugefrorenen Baikalsee, durch die Wüste Gobi, vorbei an Räubern und chinesischen Deserteuren – und schließlich, nach einer Schiffspassage, quer über die Anden, eine Strecke ohne Straße, durch Schutt und Geröll.
Es ist eine aberwitzige Idee, die sich die Mülheimer Industriellentochter Clärenore Stinnes in den Kopf gesetzt hat: mit dem Auto, einem frisch vom Band gelaufenen Adler Standard, rund um die Welt, 48 000 Kilometer, und das 1927, als Frau am Steuer. Dokumentieren soll das Abenteuer der Fotograf. Zwei Jahre ist man unterwegs, zunächst begleitet von zwei Mechanikern, am Ende nur noch zu zweit. Söderströms sechzigminütiger Film „Im Auto durch zwei Welten“ kommt 1931 in die deutschen Kinos.
Das historische Filmmaterial steht im Zentrum des eigenwilligen Filmexperiments „Fräulein Stinnes fährt um die Welt“, mit dem Regisseurin Erica von Moeller die ungewöhnliche Tour rekonstruiert. Bilder des historischen Moskau, Bilder von Istanbul und Peking, aber auch aus Sibirien, aus Argentinien und New York, weite Landschaften, zerlumpte, hungrige Kinder, Schnee und Matsch, erstaunlich gutes Material, auf dem auch immer wieder die Fahrerin selbst zu sehen ist, in Knickerbockern und Baskenmütze. Clärenore Stinnes war eine typische Zwanzigerjahrefrau, wagemutig, modern, in Hosenanzug, Pagenkopf, immer mit Zigarette. Ein burschikoses Wesen, emanzipiert und zäh.
Sie hat eine kongeniale Wiedergängerin gefunden. Für die Spielfilmszenen, mit denen Erica von Moeller das historische Material überbrückt, hat Sandra Hüller die Rolle der Clärenore übernommen. Auch sie mit Pagenkopf und Wasserwelle, eine Mischung aus zerbrechlich und zupackend. Momente der Schwäche, des Zweifels, aber auch Trotz und Durchhaltevermögen, mit dem sich die von ihren Brüdern aus dem väterlichen Unternehmen gedrängte Clärenore ihre Selbstständigkeit durch eine Wahnsinnstour beweist: Sandra Hüller braucht nur wenige Szenen, um diesen Charakter glaubhaft lebendig werden zu lassen.
Für ihr ungewöhnliches Film-Projekt, halb Doku-Fiction, halb Volkshochschulfilm mit Kurzinfotafeln und Kartenabschnitten, die ein Spielzeugauto abfährt, konnte die Regisseurin auf Tagebuchaufzeichnungen von Söderström und Informationen der Familie zurückgreifen. Clärenore und Carl-Axel heiraten anderthalb Jahre nach ihrer Rückkehr. Die Liebe, die sich während der zweijährigen Reise aus anfänglichem Kräftemessen, Streit und Irritation entwickelt, deutet der Film in den Spielszenen nur an. Auf den historischen Fotos, die Fahrerin und Fotograf gemeinsam zeigen, ist sie hingegen nicht zu übersehen.
Babylon Mitte, fsk am Oranienplatz
Christina Tilmann
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