Kino: Lasst Augen sprechen
Das Weltraumabenteuer "Wall-E“ ist eine Überraschung. Die Macher gehen an den Anfang der Kinogeschichte. Gleichzeitig präsentieren die Pixar Studios, die neueste Produktionstechnik, die es derzeit auf dem Markt gibt.
Siebenhundert Jahre Einsamkeit, da kann man schon etwas kauzig werden. So lange schon räumt Wall-E den Müll weg, den die Menschen zurückließen, als sie vorm eigenen Schmutz in den Weltraum flohen. Tag für Tag presst der Roboter Abfall zu Würfeln und stapelt sie zu Türmen auf. Seltsame Eigenarten hat sich die rollenden Müllquetsche angeeignet. Ein stoisch-heiteres Arbeitsethos. Eine Sammelleidenschaft für Feuerzeuge, Weihnachtsschmuck und anderen funkelnden Plunder. Ein Faible für das Musical "Hello Dolly“. Und: Sehnsucht.
Endlich hat das Kino wieder einen romantischen Helden. Einen, der seiner Geliebten hartnäckig und ergeben den Hof macht. Der sie zum Lachen bringt (wenn auch unfreiwillig). Der Mut beweist und seiner Liebe alles unterordnet. Eines Tages wird die Suchdrohne Eve auf der Erde abgesetzt. Sie sucht nach Spuren von Photosynthese, die sich wieder eingestellt haben könnte. Eve ist das Gegenstück zu diesem ramponierten Träumer: ein blitzendes Designermodell – schön, schnell, tödlich. Wall-E ist augenblicklich hingerissen und folgt ihr ins All. Ein sanfter, aber entschlossener kleiner Stalker.
Pixar Studios überraschen mit Hight-Tech-Stummfilm
Mit keinem seiner neun Spielfilme war das Animationsstudio Pixar je auf ausgetretenen Pfaden unterwegs. Mit "Wall-E“ von Andrew Stanton ("Finding Nemo“) kommt das bislang ungewöhnlichste Werk in die Kinos: eine heiter-finstere Zukunftsvision, auf dem neuesten Stand der Animationstechnik, und doch durch und durch nostalgisch.
"Wall-E“ ist wie ein Stummfilm mit modernen Mitteln. Es gibt zwar reichlich Töne. Das Sirren, Fiepen, Brummen und Hupen der Maschinchen – produziert von jenem Ben Burtt, der schon R2D2 und E.T. eine Stimme gab – mischt sich mit dem hübschen Soundtrack von Thomas Newman ("Finding Nemo“) zu einem fast eigenständigen Hörspiel. Worte aber werden nur wenige gemacht. Und auch sonst gehorcht dieser Film – seine Figuren, der Slapstick, die Romanze – ganz der Ästhetik des Stummfilms.
Der kleine Roboter von Nebenan
Als Walt Disney in den zwanziger Jahren das Grundvokabular des Trickfilms entwickelte, ließ er sich vom übertriebenen Körper- und Gesichtseinsatz des Stummfilms inspirieren; in der Animation hat daher vieles aus der Stummfilmzeit bis heute überdauert. Bei Wall-E standen die Animatoren allerdings vor einer schwer lösbaren Aufgabe: Wall-E hat nicht mal ein Gesicht. Er hat nur seinen ramponierten Blechkörper und die – sehr ausdrucksstarken – Teleskopaugen. Er kann die Nase nicht rümpfen, die Lippen nicht schürzen und schon gar nicht mit den Ohren wackeln. Und doch ist er eine der liebenswertesten Figuren, die das Kino je hervorgebracht hat.
Wall-E ist ein Held vom Schlage der Stummfilmkomödianten Buster Keaton und Charlie Chaplin: Auch er verkörpert den kleinen Mann beim Ringen mit der Welt. Er hat Keatons Pflichtbewusstsein und Chaplins Sentimentalität, seine Körpersprache gewinnt aus der Bewegungsökonomie hydraulischer Robotergelenke exakt jenes leicht überhöhte Bewegungstempo, das vor allem Buster Keatons Slapstick ausmacht, weil er seine Stunts damals absichtlich mit einer langsameren Filmgeschwindigkeit aufnehmen ließ, als nachher projiziert wurde.
Interkulturelle Konflikte im All
Wo nicht gesprochen wird, da gibt es kein klärendes Wort. Wenn sich zwei Figuren nicht verstehen, steigern Reiz und Reaktion wie in einem Pingpong-Spiel nur die Absurdität der Situation – bis jemand umfällt oder etwas kaputt geht (oder beides). Gelegenheit dazu gibt es reichlich, nachdem Wall-E im Schlepptau von Eve auf den Raumkreuzer "Axiom“ gelangt ist.
Etwa zwischen Mo, dem eifrigen Putzroboter, und Wall-E, der ewigen Schmutzschleuder: Der eine versteht nicht, wo der Schmutz herkommt, der andere kapiert schon das Konzept des Putzens nicht. Eine ganze Betriebsarmee von Robotern sorgt an Bord für Ordnung und Unterhaltung, während die fettleibigen und knochenschwundigen Menschheitsreste träge vor ihren Bildschirmen hängen. Die Erde haben sie längst vergessen.
Nach der Sternstunde zurück auf der Erde
Hier verwandelt sich "Wall-E“ in eine Öko-Satire und damit in einen zwar unterhaltsamen, doch gewöhnlichen Animationsfilm. Es wird sogar gesprochen. Unter anderen Umständen würde man sich darüber nicht ärgern, doch ging dem eine Sternhalbstunde des Kinos voraus: Eine rührende Liebesgeschichte ohne Kitsch, Sex und Ironie, die sich ganz aus Bildern und Klängen erzählt.
Daher ist das Ende kein glückliches. Denn kann man das überhaupt wollen – die Rückkehr der Fleischsäcke auf die Erde? So schön war es dort. Ohne Lärm. Ohne Worte. Ohne Menschen.
In 27 Berliner Kinos; OV im Colosseum
Sebastian Handke
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