Film: Halt dich an deiner Liebe fest
Spätes Glück: In „Wolke 9“ finden eine Mittsechzigerin und ein Endsiebziger zueinander.
Die Sonne ist eine launische Späherin. Neugierig gießt sie ihr Licht in die Wohnungen der Frischverliebten, stürzt sich verschwenderisch auch durch mickrige Neubaufenster, erhitzt die atemlosen Paare, reißt ihnen die Kleider vom Leib, überflutet die Körper, lässt sie glühen. Und auf einmal kosen und toben da zwei Nackte durch das Drinnen eines total normalen Wohnzimmers, als ob es ein paradiesisches Draußen wäre.
Um die Behausungen alter Paare aber macht die Sonne gern einen Bogen. Deren Fensterflügel mögen noch so weit aufgerissen sein, drinnen regiert fahles Halbdunkel, abgestanden zwischen alten Sachen wie das Schweigen. Ihre Bewohner müssen sich weit über die Brüstungen beugen, um zu sehen, was die Sonne wohl heute so treibt: Frühling zum Beispiel, unglaublich funkelnder Blütenstaubwirbel unterm Wind. Aber das Draußen ist das Draußen, sehr, und das Drinnen sehr das Drinnen.
Was aber, wenn ein verspielter Gott an zwei alten Körpern zupft und sie in den großen Sonnenregen schickt? Dann tänzelt eine Lichtdurchflutete weit jenseits der Sechzig, die sich verwegen schöngemacht hat, durch den entfesselten Blütensturm in die Wohnung eines Endsiebzigers, und sie sehen sich an und probieren einen Kuss und ziehen sich aus, zeigen einander ihre Haut voller Zeichen und Spuren, legen ihre schweren Körper ineinander. Und die Sonne, die gierige, löscht alles um sie herum auf ins Weiß, nur ihnen zur Feier.
So kann das aussehen: zwei alte Leute beim Sex. Peinlich? Im Gegenteil, es ist schön, von Anfang an. Kein Wunder, wenn ein Sonnenmensch wie Andreas Dresen diese Geschichte erzählt und ein paar mutige, alte Schauspieler für ihn spielen, was im Leben so selten nicht ist: dass der Liebesblitz einschlägt so spät und so heftig und jetzt erst recht. Dass man verliebt ist wie mit sechzehn oder sechsundzwanzig, dass man zittert vor dem ersten geheimen Wiedersehen und beim zweiten gemeinsam nackt schwimmen geht im nächstbesten See. Dass man sich unvermutet ausschütten kann vor Lachen über einen schön schmutzigen Witz und zwei Gefühle später losheulen über den Witz von eigenem, gewesenem Leben.
Inge (Ursula Werner) geht aus der engen, dunklen Wohnung, die sie seit dreißig Jahren mit Werner (Horst Rehberg) teilt, ins Licht: zu Karl (Horst Westphal). Das ist die ganze Geschichte. Eine Seligkeit zuerst und dann, natürlich, ein Drama. Andreas Dresen erzählt diese älteste Geschichte der Welt wie eine antike Tragödie à la Dresen, also: zärtlich. Und genau. Und diskret (in den allenfalls halbnahen Bildern von Michael Hammon). Sogar einen antiken Chor gibt es, den Frauenchor, in dem Inge allwöchentlich beziehungsreiches Liedgut schmettert. Und wie sie singt und sich dabei bewegt, so blühend, wie gewiegt durch das Glück!
Nehmen wir Steffi Kühnert hinzu, die als Inges bodenständige Tochter immer die falschen Ratschläge gibt, agiert hier ein verschworenes Quartett, wie in Dresens „Halbe Treppe“ (2002). Und wie in seinem damaligen Geniestreich wurde fürs gemeinsame Ziel eine Zeit lang sehr ernsthaft und heiter beieinandergelebt, schälten sich auch die Dialoge und Szenen aus erfahrungsabgelauschten Improvisationen heraus. Nur dass diesmal nicht fröhliches Ausufern angestrebt war, sondern Reduktion. Die eheliche Untreue-Eröffnung zum Beispiel geht so: „Sag das nochmal“, sagt Werner. Drauf Inge: „Ja, es ist so.“ So stehen zwei in der engen Küche beisammen, und dazu röchelt die Kaffeemaschine.
Die Implosion einer Ehe: Schmerzhafter und zugleich sparsamer hat diesen Prozess wohl selten ein Regisseur inszeniert. Es ist ja nicht nur, dass da einer den anderen, nun ja, betrügt. Ebenso zählt, ob und wie der andere den einen zur Strafe vertreibt. Und wie klug behutsam der Dritte anwesend bleibt. Also ist Horst Westphal mit leuchtendem Blick und sanfter Stimme die pure Verführung, und Ursula Werner spielt die zagend und jubelnd Wiedererweckte mit umwerfender Sinnlichkeit. Den Eheschattenmann und schrulligen Eisenbahnfan verkörpert Horst Rehberg brillant als einen vom Leben Gebrochenen, gebrochen lange schon vor der Katastrophe der anderweitigen Liebe.
Bei den Filmfestspielen von Cannes hat „Wolke 9“, der in der Nebenreihe „Un certain regard“ lief, einen hübschen, neugeschaffenen Preis gewonnen, den dafür geradezu maßgeschneiderten „Coup de coeur“, frei übersetzt: den Frischverliebtheitspreis.Womit die von Fatih Akin geleitete Jury der Leuchtkraft dieses Films liebevoll Tribut zollte – und seine ebenso durchdringende Finsternis munter beiseite ließ. Denn auch das zeigt „Wolke 9“ mit stiller Konsequenz: Das gewaltige Glück, das die launischen Götter ausstreuen, ist ohne ebenso großen Schmerz nicht zu haben, im schlimmsten Fall nicht ohne den Riss, der mitten durch einen Menschen geht.
Capitol, Cinemaxx Potsdamer Platz, Cineplex, Titania, Delphi, Hackesche Höfe, International, Kulturbrauerei und Yorck
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