zum Hauptinhalt
316697_0_a262365b.jpg
© Wild Bunch

Babylon Mitte: Einsam, zweisam, anders

„Unknown Pleasures“: Das Babylon Mitte zeigt bemerkenswerte Independent-Filme aus den USA.

Scheitern als Chance – das ist keine Floskel. Vor allem Künstlern kann es guttun, wenn sie ein wenig abstürzen. Es gibt eine Mainstream- und Big-Budget-Falle, in der einst auch Gwyneth Paltrow gelandet ist. Die blonde Hollywood-Prinzessin wurde zur neuen Grace Kelly aufgebaut und war mit dieser Rolle überfordert; sie wurde belächelt und angefeindet. Jetzt ist die Last, eine Ikone sein zu müssen, weg. In „Two Lovers“, dem Eröffnungsfilm des American Independent Film Festivals „Unknown Pleasures“ im Berliner Babylon Mitte, spielt sie die Frau von nebenan. Leonard (Joaquin Phoenix), der mit Ende dreißig immer noch bei seinen Eltern wohnt, soll mit der Tochter von Geschäftspartnern verkuppelt werden. Doch als er im Hausflur Michelle begegnet, denkt er nur noch an sie.

In seinem vierten Film fängt James Gray („Little Odessa“) erneut die Lebensweise russisch-jüdischer Einwanderer in New York ein, und in dieser Welt ist die blonde Protestantin Paltrow ein reizvoller Fremdkörper. Sie wird nicht übertrieben als Traumgeschöpf inszeniert, sie ist einfach nur etwas glamouröser als der Durchschnittsbürger. Überhaupt verzichtet Gray auf Übertreibungen. Phoenix reduziert die psychischen Störungen seiner Figur auf ein Minimum. Die besorgten Eltern (Isabella Rossellini als Mutter) nerven ein wenig, sind aber keine Karikaturen. Es sind solche Feinheiten, die einen regulären Kinostart erschweren. „Two Lovers“ hat den Mut, einfach nur eine Charakter- und Milieustudie sein zu wollen. Er ist eine Liebeserklärung an einen Teil von New York, den Filmemacher ignorieren.

Von einer weiteren Parallelwelt handelt Thomas McCarthys Kammerspiel „The Visitor“, in dem ein menschenscheuer Professor nach langer Zeit wieder sein New Yorker Apartment aufsucht und dort zwei illegale Einwanderer vorfindet: einen Mann aus Syrien, eine Frau aus dem Senegal. Er lässt das Paar bei sich wohnen, zum Teil aus Schuldgefühlen wegen der restriktiven US-Einwanderungspolitik, zum Teil aus Einsamkeit. Bereits 2007 wurde der Film in Toronto uraufgeführt, Hauptdarsteller Richard Jenkins erhielt eine Oscar-Nominierung; nun kommt er am 15. Januar unter dem Titel „Ein Sommer in New York“ auch regulär in die deutschen Kinos.

Einsam fühlt sich auch Madeline, die Heldin von Damien Chazelles „Guy and Madeline on a Park Bench“, gerade weil um sie herum so viel Leben ist. Sie ist mit einem erfolgreichen Jazzmusiker liiert und weist selbst keine erkennbaren Begabungen auf. Was für eine Langweilerin, denkt man. Dann fängt sie plötzlich an, vor sich hin zu singen, und wenn sie in einem Lokal den Fußboden schrubbt, wird der Film zum Musical. Die Handlung spielt in Boston in einer nicht näher definierten Gegenwart: Man sieht junge Leute ohne Handy und ohne Webcam, und für seine Musik benötigt Guy keine elektronische Verstärkung. Die Bilder sind schwarz-weiß, wie auch das Paar. Eigenartigerweise ist das immer noch ein Tabu im US-Mainstream, wo man zurzeit dazu übergeht, schwarze Darsteller mit Latinas zu paaren. Bei Chazelle ist Hautfarbe kein Thema; ihn interessieren die unterschiedlichen Temperamente.

Natürlich darf auf solch einem Festival die Youtube- und DIY(Do-it-yourself)Generation nicht fehlen: überwiegend männliche Jugendliche, die im Internet surfen und sich an verbotenen Bildern ergötzen. Richard ist so einer. Er hat sich die Hinrichtung von Saddam Hussein heruntergeladen und onaniert zu einem Porno-Casting, in dessen Verlauf die Bewerberin gewürgt wird. Als er später ein Videoseminar besucht, probiert er unbeholfen denselben Würgegriff bei einem Mädchen aus, dessen Herz er eigentlich erobern wollte. Antonio Campos’ „Afterschool“ gehört zum Genre des Highschool-als-Hölle-Dramas. Scheinbar ungerührt lässt Richard die Kamera laufen, als zwei Mädchen nach einem Drogencocktail über den Flur kriechen und sterben. Nie verlässt die Kamera das Gelände des Eliteinternats, in das der Junge abgeschoben wurde. Angehörige kommen nur selten zu Besuch, die Lehrkräfte werden nur undeutlich wahrgenommen und Richard teilt sein Zimmer mit unsympathischen Mitschülern, deren Gesprächsstoff sich auf schmutzige Witze beschränkt. In dieser kalten Welt erscheint Robert als der einzige Normale, weil er wenigstens genau hinsieht. Als er von der Schulleitung beauftragt wird, einen Kompilationsfilm über die toten Mädchen herzustellen, beweist er mehr Herz als die heuchlerischen Trauerredner.

Die Veränderung menschlicher Beziehungen durch modernste Technik ist das Leitmotiv auch bei Joe Swanberg, dem 28-jährigen Wunderkind des amerikanischen Independent-Films. Er ist wegen seiner Produktionsweise schon mit John Cassavetes verglichen worden und als ewig pubertierender Proll mit Judd Apatow, doch seine Arbeitswut erinnert vor allem an den frühen Fassbinder. Seit seinem Debüt vor vier Jahren war Swanberg an rund dreißig Filmen und Webshows beteiligt, die fast alle in Chicago entstanden sind. Er lässt die Kamera laufen, wenn er mit Freunden zusammenhockt, aus Angst, etwas zu verpassen. Es gibt keinen Swanberg-Film ohne SMS oder Videobotschaften. Zugleich feiert er mit nicht simulierten Sexszenen die körperliche Liebe. Möglicherweise schielt er jetzt nach Hollywood: Die Geschwisterstudie „Alexander the Last“ zeichnet sich durch höhere Professionalität und jugendfreie Erotik aus. Alex ist Schauspielerin und ihre Schwester Hellen Fotografin. Die beiden tauschen ihre Männer aus und nehmen sie wieder zurück, ohne Probleme. In einer rasanten Parallelmontage probt Alex für eine erotische Off-Theater-Inszenierung und hat zugleich Sex mit dem Bühnenpartner.

Swanberg gilt als Teil der Mumblecore-Bewegung, in deren Filmen mehr gemurmelt als klar gesprochen wird, doch seine Akteure artikulieren sich besser und sehen besser aus – zu gut nach Ansicht von Puristen, die Independent-Kino mit einem konsequenten SchmuddelLook verbinden. Dabei betonen die Veranstalter von „Unknown Pleasures“, dass sie kein Anti-Hollywood zelebrieren wollen, keinen David-gegen-Goliath-Kampf. Sie zeigen Filme, die sich mehr künstlerische Freiheiten erlauben als der Mainstream. Doch sie behaupten keine Überlegenheit, weder künstlerisch noch moralisch. Sie wollen einfach nur anders sein.

Babylon Mitte, bis 19. Jan., Programminfos unter www.unknownpleasures.de

Zur Startseite