Zum Tag des Kusses: Ein guter Film ist ohne Küsse kaum denkbar
Andere Motive tauchen mal hier, mal dort auf, der Kuss aber ist universell, so dass man nach Filmen, in denen darauf verzichtet wurde, schon suchen muss. Ein Essay zum Tag des Kusses.
Immer wenn ein Filmkuss droht, greift Padre Adelfio empört zur Glocke. Gerade noch hat sich der Dorfpfarrer von Giancaldo ganz der vor ihm ablaufenden Geschichte hingegeben, versunken in diese ihm sonst verschlossene Welt, da wittert er plötzlich Unmoral. Ein Mann und eine Frau kommen sich auf der Leinwand verdächtig nahe, breiten die Arme aus, spitzen die Münder – wild bimmelt der fromme Mann seinen Protest: Schnitt!
Die späten 40er Jahre in der sizilianischen Provinz, die Giuseppe Tornatore in „Cinema Paradiso“ (1988) schildert, waren für Filmküsse eine schwierige Zeit. Ein alter Vorführer hatte dem Regisseur von einem Pfarrer erzählt, der sich alle Filme des Dorfkinos zeigen und besonders die Küsse herausschneiden ließ. In Giancaldo muss Alfredo (Philippe Noiret) zur Schere greifen, aber er bewahrt die verbotenen Küsse auf, klebt sie zusammen – sein Vermächtnis für den anfangs kleinen, nun zum berühmten Regisseur gereiften Freund. Mit der Vorführung dieser Filmrolle, 22 Küsse aus 18 Filmen, endet „Cinema Paradiso“, ein wunderschöner, ergreifender Schluss – und zugleich eine Hommage an eines der seit jeher wichtigsten, populärsten und damit fast unverzichtbaren Handlungsdetails, ohne die die Filmgeschichte nicht denkbar wäre.
Andere Motive tauchen mal hier, mal dort auf, der Kuss aber ist universell, so dass man nach Filmen, in denen darauf verzichtet wurde, schon suchen muss. Der Gedanke scheint sogar erlaubt, dass das Kino gerade im Kuss seine Vollendung findet, folgt man jedenfalls einem Dichter wie Friedrich Dürrenmatt. Für den steigerte der Film „die Intimität ins Unermessliche, so sehr, dass er Gefahr läuft, die eigentlich pornografische Kunst zu werden“, und die Beliebtheit der Stars liege „nur darin, dass jeder, der sie auf der Leinwand sah, auch das Gefühl hat, schon mit ihnen geschlafen zu haben“. Die höchste Intimität aber, so ließe sich Dürrenmatt zu Ende denken, wird zweifellos im Kuss erzielt.
Angesichts dieser filmhistorisch essenziellen Bedeutung vereinigter Lippen überrascht es kaum, dass manche Filme den Kuss schon im Titel tragen. Selbst George Seatons Luftbrückendrama „The Big Lift“ (1950) mit Montgomery Clift wurde in der deutschen Fassung zu „Es begann mit einem Kuss“, was die politische Geschichte ins Private umdeutete. Sicher kein Zufall ist es auch, dass einer der berühmtesten Songs der Filmgeschichte, „As Time Goes By“ aus Michael Curtiz’ „Casablanca“ (1942), mit einem Kuss beginnt: „You must remember this / A kiss is just a kiss“. Allerdings, so schön sich das auch anhört: Es stimmt nicht. Ein Kuss ist eben nicht nur ein Kuss, im Leben nicht und nicht im Kino. Vielmehr gibt es je nach Form und Funktion zahllose Varianten, was eine Kategorisierung nahelegt. Allerdings sollte man sich bewusst bleiben, dass Küsse vieldeutig sind, oft in diese wie jene Untergruppe passen.
DER ERSTE KUSS
Er ist zugleich einer der unbeholfensten und wurde 1896 zwischen May Irwin und John C. Rice ausgetauscht. Für die Edison Manufacturing Company hatte William Heise den 20-Sekunden-Film „The Kiss“ gedreht, nach der Schlussszene des Broadway-Musicals „The Widow Jones“: Mann und Frau in Nahaufnahme beim zärtlichen Tête-à-Tête, in einem schüchternen Kuss mündend, nicht ohne dass der Herr sich vorher den Schnurrbart gezwirbelt hat.
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DER UNSCHULDIGE KUSS
Er ist nicht nur den Kindern vorbehalten, aber ihre Domäne, und der unschuldigste Kuss von allen ist gewiss der zwischen der kleinen Drew Barrymore und dem verschrumpelten Alien in Steven Spielbergs Science-Fiction-Film „E.T. – Der Außerirdische“ (1982): Es bleibt beim zarten Kuss auf die Nase. Ähnlich behutsam ist Harry Potter (Daniel Radcliffe) in „Der Orden des Phönix“ (2007) bei seinem ersten Kuss, der angeblich 30 Mal wiederholt werden musste, und dabei ist Schulfreundin Cho alles andere als ein Monster.
Dem unschuldigen Kuss verwandt ist der scheue: Ihre Verfolger haben Reporter Joe Bradley (Gregory Peck) und Prinzessin Ann (Audrey Hepburn) durch einen Sprung in den Tiber abschütteln können, jetzt sitzen sie tropfnass am Ufer, Höhepunkt von William Wylers „Ein Herz und eine Krone“ (1953). Langsam ist die Liebe gewachsen, jetzt bricht sie hervor, gipfelt in einem mehr zärtlichen als leidenschaftlichen Kuss, wunderschön und verboten. Eine Mesalliance.
DER DRAMATISCHE KUSS
Es ist der Kuss der großen Gefühle. Häufig mit Schicksal, Verhängnis gar verbunden, bleibt er meist unerfüllte Verheißung. Eine ganze Serie solcher Küsse ist in Victor Flemings „Vom Winde verweht“ (1939) zu sehen, vielen gelten sie als die besten der Filmgeschichte. Besonders dramatisch geht es gleich beim ersten Kuss zwischen Rhett Butler (Clark Gable) und Scarlett O’Hara (Vivien Leigh) zu: Er hat sie aus dem brennenden Atlanta nach Tara gebracht, will nun selbst in den Krieg, erbittet sich zum Abschied einen Kuss. Halb zieht er sie, halb sinkt sie hin, aber nicht lange: Die Szene endet mit einer schallenden Ohrfeige. Kaum weniger dramatisch küssen sich Humphrey Bogart und Ingrid Bergman in „Casablanca“, Omar Sharif und Julie Christie in David Leans „Doktor Schiwago“ (1965) oder Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in James Camerons „Titanic“ (1997). Ein düsterer historischer Hintergrund, sei es der Amerikanische Bürgerkrieg, der Zweite Weltkrieg oder die Russische Revolution, geben den Küssen erst tragisches Format. Zur Not tut’s auch ein Eisberg.
DER GIERIGE KUSS
Hätte Catherine Tremell (Sharon Stone) beim Verhör einen Slip getragen, vielleicht wäre Detective Nick Curran (Michael Douglas) ihr nicht verfallen, und Paul Verhoevens „Basic Instinct“ (1992) hätte einen weniger blutigen Verlauf genommen. Aber auch einen weniger erotischen, ohne diese Küsse des totalen Begehrens, der alles verschlingenden Hemmungslosigkeit, die, nun ja, Liebenden ausgeliefert ihren dunkelsten Trieben – ein Akt voller Todessehnsucht und Mordlust. Selbst hier sind Steigerungen möglich, man nehme nur Nagisa Oshimas „Im Reich der Sinne“ (1976).
DER TÖDLICHE KUSS
Auch ihm wohnt oft Fatalität inne. Die wilde Küsserei im Fluchtauto nach dem ersten Überfall setzt in Arthur Penns „Bonnie und Clyde“ (1967) eine Kausalität frei, der die Protagonisten (Warren Beatty/Faye Dunaway) zuletzt im Kugelhagel erliegen. Fast ebenso zwangsläufig muss in Bond-Filmen die erste Gespielin des Agenten dran glauben, so in Guy Hamiltons „Goldfinger“ (1964) mit Sean Connery. Bereits der Titelsong beschwört den Todeskuss: „For a golden girl knows when he’s kissed her / It’s the kiss of death from Mr. Goldfinger“.
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Auch bezüglich der Kusstechnik lassen sich Kategorien finden. Denkbar ist etwa „Der akrobatische Kuss“, wie ihn uns der Titelheld (Tobey Maguire) in Sam Raimis „Spider-Man“ (2002) vorführt, als er sich kopfüber zu seiner Herzdame Mary Jane (Kirsten Dunst) abseilt. Selbst „Der animalische Kuss“ ist nachweisbar: In Arthur Penns „Duell am Missouri“ (1975) tauscht Killer Clayton (Marlon Brando) mit einem Pferd diese Zärtlichkeit aus. Eine Mohrrübe zwischen seinen Lippen hat das arme Tier verführt.
Systematisieren lässt sich der Filmkuss auch nach seinem Erfolg. Am oberen Ende der Skala steht „Der preisgekrönte Kuss“, beispielsweise die Zärtlichkeiten, die Robert Pattinson und Kristen Stewart in ihren drei Vampirfilmen austauschten und die bei den MTV Movie Awards 2009–2011 in der Publikumsgunst stets an der Spitze lagen. Das untere Ende bildet „Der zensierte Kuss“. So fehlte bei der Ausstrahlung von Ang Lees „Brokeback Mountain“ (2005) im italienischen Fernsehen ein Kuss zwischen den schwulen Cowboys (Heath Ledger/Jake Gyllenhaal). Man kann aber davon ausgehen, dass die meisten zensierten Küsse gar nicht erst gedreht wurden, jedenfalls in Hollywood, wo von 1934 bis 1967 der Hays Code galt, in dem es hieß: „Exzessives und lüsternes Küssen, wollüstige Umarmungen, suggestive Stellungen und Gesten sollen nicht gezeigt werden.“ Doch ob nun zärtlich oder wollüstig – die Frage bleibt: Wo lernt man das? Nicht jeder Schauspieler hat schließlich die Vorbildung von Sängerin Sugar (Marilyn Monroe) in Billy Wilders „Manche mögen’s heiß“ (1959), die sie dem vermeintlichen Millionärserben Shell Jr. (Tony Curtis) nach hingebungsvoller Knutscherei gesteht: „Sagen Sie mal, wo haben Sie gelernt, so zu küssen?“ – „Ich hab’ Küsse für den Milchfonds verkauft.“ In der Realität ist das Erlernen dieser Kunst mühsamer, wie die Schauspielschüler der Internationalen Filmschule Köln sich eingestehen mussten, als auf dem Stundenplan im Herbst 2000 der Filmkuss auftauchte. Hollywood-Gastdozent M. K. Lewis erwies sich als Lehrer mit unbestechlichem Blick („Das sieht ja aus wie ein Rugby-Spiel“) – und einer Goldenen Regel: „Das Unwichtigste am Filmkuss ist der Kuss selbst.“ Das Vorspiel sei viel wichtiger. Solche Nachhilfestunden sind offenbar die Ausnahme. Nicht mal auf Filmsets werde einem Küssen beigebracht, klagte Daniel Radcliffe nach „Harry Potter und der Halbblutprinz“ (2009): „So was sagt einem keiner, und es ist peinlich zu fragen.“ Einiges hat er dennoch gelernt: „Es ist natürlich unerlässlich, jede Menge Pfefferminzkaugummis zu kauen und locker zu bleiben. Und lass die Zunge in deinem Mund“ – ein Tipp, den schon Hildegard Knef vor einer Kussszene in „Alraune“ (1952) Karlheinz Böhm gab.
Wie viel wahrer Genuss bei derart beherrschten Lippenbekenntnissen noch möglich ist, hängt sicher vom Temperament ab, die Regel aber dürfte sein: kein Genuss. „Ich hatte tierische Angst davor, aber dem Mädchen gegenüber hab’ ich so getan, als hätte ich das schon tausend Mal gemacht“, schilderte Robert Stadlober seinen ersten Filmkuss. „Einfach Arbeit“ war für Franka Potente die Küsserei mit Hugh Laurie in der TV-Serie „Dr. House“, während es für Nora Tschirner besonders wichtig ist, „dass man ein totales Vertrauensverhältnis zueinander hat“. Dazu gehöre auch, „dass es zwischen den Takes nicht knistert“. Manch einer tut sich damit grundsätzlich schwer: „Ich fühle mich nie wohl dabei, jemanden zu küssen, mit dem ich nicht liiert bin“, bekannte Johnny Depp. Allerdings hat es immer wieder Filmpaare gegeben, aus denen echte wurden, von Humphrey Bogart und Lauren Bacall („Haben und Nichthaben“, 1944) über Spencer Tracy und Katherine Hepburn („Die Frau, von der man spricht“, 1941) bis zu Tom Cruise und Nicole Kidman („Tage des Donners“, 1990). Die Frage, wie echt oder gespielt ein Kuss sein mag, stellt sich das Publikum allenfalls hinterher. Im Augenblick des Schauens zählt nur die Illusion, die Hingabe an Marylin, wie sie „I wanna be kissed by you“ seufzt, oder an Jane Russell, wie sie sich in Howard Hughes’ „Geächtet“ (1943) mit geöffneten Lippen zur Kamera neigt, als wolle sie jeden einzelnen Zuschauer küssen. Wichtig ist in diesem Moment nur das Versinken in den Traum der Liebe – und es wage niemand, nicht mal Padre Adelfio, uns daraus mit einer Alarmglocke zu wecken.
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