"Winter’s Bone": Die letzte Rebellin
Country-Noir, Sozialdrama, Thriller. Überleben in einer gottverlassenen Welt: Debra Graniks Missouri-Drama "Winter’s Bone" ist durchsetzt von Genre-Elementen.
Elektroschrott auf der Veranda, Autowracks, ein uraltes Trampolin, ausrangierte Sofas, vergessenes Spielzeug. Eiszapfen hängen am Schaukelpferd, Wäsche tropft im Wind, das Laub ist welk, das Unterholz morsch, der Wald schwarz und kahl unter schweren Wolken. Die Leute tragen Parkas und Fleecejacken, ihre Gesichter sind verlebt, verwittert, verhärmt. Misstrauen lauert in ihren Blicken, jede Regung verrät Feindseligkeit. Der Mensch, ein Tier in kalter Zeit, das überleben muss. Man kann sich nicht vorstellen, dass hier je richtig die Sonne scheint.
Auch das ist Amerika, sogar seine Mitte, sein Herz: Missouri, Ozark-Mountains, Land der Rednecks, des White Trash. Hier lebt Ree Dolly mit ihren kleinen Geschwistern und der apathischen Mutter im Holzhaus der Familie, eine schäbige Hütte, aber ein Heim, das letzte Refugium für die 17-Jährige und das, was von den Dollys übrig ist. Den Vater hat die Polizei geschnappt, weil er Crystal Meth braut, das Koks der armen Leute, ein teuflisches Zeug, es zersetzt das Gehirn. Er ist auf Kaution frei, hat das Haus dafür verpfändet und wenn er nicht auftaucht, wird es beschlagnahmt. Das wäre das Ende, der letzte Rest Würde und Zivilität wäre dann weg. Also sucht Ree ihren Vater.
Sie fragt nach ihm in ihrem eigenen Clan, bei Nachbarn und Freunden, bei der Rinder-Auktion mit verängstigten Tieren, die aus ihren Metallgattern jagen. Sie fragt bei den Miltons, dem Clan der anderen, alle haben sie Drogenküchen oder sind kaputt von dem weißen Pulver, überall stößt sie auf eine Mauer des Schweigens. Ree bleibt stur: Ich finde ihn, sagt sie zum Sheriff, sie kämpft um das Haus, gegen den Hunger, das Elend und die Resignation, sie bringt dem scheuen Bruder und der noch kleineren Schwester bei, wie man „Haus“ buchstabiert, sie lehrt sie das Schießen und wie man ein Eichhörnchen ausweidet.
Jennifer Lawrence ist Ree, eine Rebellin, ein hübsches Mädchen, aber mit unerbittlichem Trotz in den Augen. Die letzte Pionierin. Mit einer Kraft und Zähigkeit, die eine 17-Jährige eigentlich gar nicht haben kann, macht sie lauter Männersachen. Stapft in Boots, zerschlissenen Jeans und Holzfällerhemd zu den entlegensten Hütten, bietet dem Milton-Clan die Stirn und kommt nicht ungeschoren davon. Aber sie beugt sich nicht dem Schweigekartell dieses von Blutsbanden geprägten ruppigen Menschenschlags, fragt beharrlich weiter nach dem Aufenthaltsort ihres Dads, ob tot oder lebendig, egal, sie muss seiner habhaft werden, fragt noch mit ausgeschlagenen Zähnen, mit blutigem Mund und verschwollenem Gesicht.
Es sind die Frauen in der Nachbarschaft, die Ree am härtesten angehen. Von ihren Männern erleben sie selbst häusliche Gewalt, die geben sie weiter und finden auf ihre unwirsche Art dann doch einen Ausweg aus der archaischen Fehde. Weil diese Halbwüchsige in ihrer Verzweiflung einfach nicht aufgibt.
Einen Country-Noir hat man Debra Graniks Lowbudget-Produktion „Winter’s Bone“ genannt, einen neorealistischen Western aus einer gottverlassenen Gegend, die von Washington, New York oder L.A. so weit entfernt liegt wie ein anderer Planet. 2010 wurden hier allein 2000 Meth-Küchen ausgehoben, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“, in ganz Amerika waren es über 10 000, ein Riesenproblem, überall im Hinterland der USA. Granik hat größtenteils mit Laiendarstellern gedreht, die Leute spielen sich selbst, sie spielen auch Bluegrass, jene Folkmusik, die so arglos klingt, aber voller Trauer und Verlorenheit steckt. Der Film, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Daniel Woodrell, war 2010 in Sundance ein Überraschungserfolg. Auf der Berlinale gewann er letztes Jahr den Leserjury-Preis des Tagesspiegels, 2011 erhielt er vier Oscar-Nominierungen. Für einen Film ohne big names auch hinter der Kamera, eine derart raue, dokumentarisch anmutende Story ist das eine kleine Sensation.
Der Wind klirrt, Hunde bellen, eine Motorsäge kreischt. Das Sozialdrama der 48-jährigen Regisseurin ist durchsetzt von Genre-Elementen. „Winter’s Bone“ driftet zunehmend Richtung Thriller, mit schockhaften Horrorszenen bei Nacht und Nebel im Sumpf – das ist etwas zu dick aufgetragen. Aber wen schert die stilistische Balance angesichts einer derart eindringlichen Tragödie? Einer, die so klug ist, ihre Protagonisten der winzigen Chance auf so etwas wie Zukunft am Ende nicht zu berauben.
Raus hier, nichts wie weg. Es gibt Alternativen, zwischendurch jedenfalls. Eigentlich möchte Ree zur Army, zumal es Geld gibt zum Einstand, 40 000 Dollar, das reicht für die Kaution. In der Schule, wo die Rekruten angeheuert werden, sieht sie die gleichaltrigen Mädchen, die mit Puppen das Mama-Sein üben, und die anderen, die den Stechschritt trainieren. Du brauchst, sagt der Officer (nicht alle Erwachsenen sind Monster), mehr Mut, um zu Hause zu bleiben. Der dritte Weg ist der schwerste.
In 8 Berliner Kinos. OmU: Hackesche Höfe, Odeon, OV: Cinestar SonyCenter
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