"Sin Nombre": Die Hölle von Honduras
Tatort Lateinamerika: Der Film „Sin Nombre“ erzählt von der gefährlichsten Mafiabande der Welt und ist eine Anklage gegen die Zukunftsnot der jungen Generation.
Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi weiß es wieder mal besser. Nicht die Mafia sei das Problem Italiens, ließ er dieser Tage verbreiten, sondern die Leute, die deren Geschäftsmethoden öffentlich anprangerten. Leute wie Roberto Saviano etwa, sein Buch „Gomorrha“ und solche Sachen: So was sei, ganz klar, „Negativwerbung“ gegen Italien. Dabei wisse doch jeder, dass die italienische Mafia gar nicht so schlimm sei: Interkontinental gesehen stehe sie bloß auf Rang sechs.
Zur Resonanz, die Saviano mit seinem aufsehenerregenden Buch widerfuhr, gehört freilich auch der 2006 von der neapolitanischen Mafia verkündete Mordaufruf, weshalb der Schriftsteller sich seitdem unter Polizeischutz an wechselnden Orten versteckt halten muss. Unterstützt von den wenigen italienischen Medien, die noch nicht völlig unter Berlusconis Fuchtel stehen, wehrt sich Saviano gegen derlei diffamierende Urteile. In der „Repubblica“ bekräftigte er soeben, dass die Mafia mit über 100 Milliarden Euro Jahresprofit jedes italienische Unternehmen in den Schatten stelle. Und fragte: „Wodurch wird die Macht der Mafia bestimmt: von dem, der die Verbrechen beim Namen nennt, oder von dem, der sie begeht?“
Zynisch recht in seiner bewusst verharmlosenden Einschätzung der heimischen Mafia hat Berlusconi allenfalls in einem: Saviano lebt noch, während anderswo politisch engagierte Künstler gleich umgebracht werden. So geschah es dem 54-jährigen Regisseur Christián Poveda, der vor einem halben Jahr in El Salvador durch vier Schüsse ins Gesicht getötet wurde. Ein Jahr zuvor hatte er seinen Dokumentarfilm über die Mara Salvatrucha fertiggestellt, eine weitverzweigte mittelamerikanische Mafia, die das Berlusconi-Ranking auf Platz drei führt, gleich nach der chinesischen und japanischen. „La vida loca“ hieß Povedas Film, das verrückte Leben – entsprechend dem Motto der Mafia, die ihn ermordete.
Saviano hat Erfolg, „La vida loca“ hatte Erfolg auf Festivals. Nun wurde im Januar Cary Fukunagas eindrucksvolles Debüt „Sin Nombre“ in Sundance uraufgeführt und dort mit Regie- und Kamerapreis ausgezeichnet. Kann man das feiern? Muss man nicht ebenso bangen um den erst 32jährigen kalifornischen Regisseur, der in seinem Spielfilm die Methoden der Mara Salvatrucha nicht minder deutlich anprangert als der Dokumentarist Poveda?
Immerhin eines macht ihn für die Todesschwadronen hoffentlich weniger interessant: Keine Gangmitglieder, sondern Schauspieler stehen in „Sin Nombre“ vor der Kamera, und seien sie noch so realistisch wie furchterregend geschminkt und tätowiert. Lil’ Mago etwa (gespielt vom Mexikaner Tenoch Huerta Mejía) trägt über das ganze Gesicht die blauen MaraInitialen „MS“, und sein vergleichsweise zarter Gegenspieler Casper (der Honduraner Edgar Flores in seiner ersten Kinorolle) hat sich eine Träne in das Gewebe unter dem Auge tätowieren lassen. Überhaupt ist alles Zeichen, die Tattoos wie die brachialen Gesten, mit denen sich die Mara-Mitglieder einander zu erkennen geben: Alles deutet aufs Abstechen, Abschießen, Auslöschen hin.
13 Sekunden lang sich am Boden von den Kumpels treten lassen, bis man Blut kotzt: Für Neulinge ist das die erste Bewährungsprobe. Wer aber wirklich dazugehören will, muss seinen ersten Mord begehen – und sei es an einem im Käfig gehaltenen, um sein Leben bettelnden Gefangenen, dessen Fleisch man nachher an die Hunde verfüttert. „Sin Nombre“ inszeniert diese Riten, denen sich die Jungs des Viertels nahezu ohne Altersbeschränkung unterziehen, mit dokumentarischer Aufmerksamkeit: nüchtern, ohne Pathos, aber auch ohne Ekel. Ekeln darf der Zuschauer sich dann schon selber.
Was das brutale Geschehen für den Zuschauer denn doch erträglich macht, ist die Hoffnung, die sich aus dem Zusammentreffen des 18-jährigen Casper mit der hübschen Sayra (Paulina Gaitan) ergibt. Eine Liebesgeschichte ist das nicht, allenfalls der schüchterne Ansatz hierfür – in einem Geschehen, das bald in die Gleise eines faszinierenden Rail-Movies einruckelt. Casper wie Sayra sind auf der Flucht. Casper hat den Bandenführer Lil’ Mago getötet und muss nun die Rache der Mara fürchten. Sayra will raus aus den Slums von Tegucigalpa, Honduras, und über Mexiko illegal in die USA, wo ein Teil ihrer Familie wohnt.
Zumindest auf den Dächern der Güterzüge darf die Hoffnung wohl grenzenlos sein: Gerade so hätte Cary Fukunaga seinen Stoff inszenieren können, als hollywoodeske Flüchtlingsromanze zweier verlorener Kinder. Dem aber – und das macht den Film auch kompositorisch wagemutig – steht der illusionslose Blick der Figuren auf sich selbst entgegen. Casper hält sich angesichts der Übermacht der überall operierenden Mafia bereits für tot, und tatsächlich ist ihm vor allem der zwölfjährige Smiley (Kristian Ferrer) mit dem Mordauftrag vom neuen Banden-Boss dicht auf den Fersen. Und was für ein Leben erwartet Sayra in den USA, wenn sie es wider Erwarten durch den Grenzfluss schaffen sollte?
„Sin Nombre“ erzählt vor allem von einer Mafia, deren brutale Gesetze sich zu keiner Zeit mit den Normen der Polizei messen müssen. Und ist zudem als schreiende Anklage gegen die Zukunftsnot einer ganzen Generation zu verstehen. Überall in der sogenannten Dritten Welt ist mindestens die Hälfte der Bevölkerung unter 20 und lebt oft ohne Aussicht auf Ausbildung und Arbeit in ärmsten Verhältnissen. Und überall sind diese Slums Nährboden für ein Bandenwesen, in dem ein Menschenleben kaum noch zählt.
Die schwarze Moral: Wer überleben will, muss den Schutz einer Gang suchen, sich ihrem Regelwerk unterwerfen und früher oder später zum Mörder werden. Wer dagegen rebelliert, ist verloren. Vor acht Jahren hat der Brasilianer Fernando Meirelles in „City of God“ eine mitreißende Hymne auf den trotzigen Lebenswillen dieser so kaputten Jugend angestimmt. „Sin Nombre“ ist, als leise Antwort darauf, ungleich schmerzhafter.
Ab morgen in sechs Berliner Kinos; OmU Hackesche Höfe und Neues Off
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