Miriam Toews in einem Mennoniten-Filmdrama: Der Himmel über Chihuahua
Ein echtes Familiendrama unter Mennoniten: "Stellet Licht“ isst ein Geniestreich des Mexikaners Carlos Reygadas.
Manchmal gib es im Kino Augenblicke, die sind nicht von dieser Welt. Zum Beispiel der unendlich langsame ZeitrafferSonnenaufgang über dem mexikanischen Bundesstaat Chihuahua, mit dem dieser Film beginnt – und wohl jeder Text jedes glücklich verhexten Rezensenten. Da schälen sich aus der sternenbekränzten Nachtschwärze Bäume und Felder heraus, da geht das Grillenzirpen in das Vogelschrillen und die Schreie des erwachenden Viehs über. Aber in der tiefsten Sekunde zwischen Nacht und Tag verwandelt sich die Erde für ein Atemholen in den Planeten Venus, ist nichts weiter als ein flammender Ort im All.
Dann ist Licht. Tag. Immer noch „Stellet Licht“, stilles, hohes Licht über der Farm von Johan (Cornelio Wall Fehr) und Esther (Miriam Toews) und ihren vielen Kindern – Mennoniten, die in ihr langes Schweigen mitunter Wörter auf „Plautdietsch“ hineinsagen. Die Familie sitzt am Küchentisch, in einer Welt aus Petroleumlampen und Emailleschüsseln, aber auch Gasherden und Digitalarmbanduhren, und behutsam löst sich die Kamera aus der Starre, bis die Szene sich im Pendel der Standuhr spiegelt. Dann bleibt Johan allein, sekunden- oder stundenlang, bricht in Tränen aus; und die Kamera kommt ihm näher und näher.
Ein Unglück ist über dieser Familie, eines, von dem sie weiß. Und es ist ein Glück zugleich, eines für Johan, nur zerreißt es ihn. Er liebt Esther, und er liebt Marianne (Maria Pankratz) seit zwei Jahren und trifft sich mit ihr anderswo, und Esther weiß es und geht langsam zugrunde daran, und Johan und Marianne werden sich trennen, so haben sie es beschlossen. „Es ist das Werk des Feindes“, sagt Johans Vater ohne jede Strenge zu seinem Sohn und meint damit den Teufel, der Johans Familie zerstört. „Ich glaube, es ist Gottes Werk“, entgegnet Johan. Könnte ja sein, dass Gott der Feind ist, der alle diese guten Menschen in ihre maßlosen Schmerzen treibt.
Niemand bricht hier mit niemandem, allenfalls bricht ein Herz. Das kann ohne Aufhebens am Rande einer fernen Asphaltstraße geschehen, die das Auto nach langer Fahrt über rote Sandpisten erreicht, und dann ist da ein Sturzregen und das Untergehen eines Menschen im Himmelsozean. Geweint wird zu anderen Zeiten, an anderen Orten, als ein zarter Austausch von Körperflüssigkeiten oder allein. Es sei denn, es geschieht ein Wunder, bevor die Nacht kommt, die ewige oder auch nur die nächste, und das Grillenzirpen und die Sterne.
Das Wunder hat sich Carlos Reygadas aus „Ordet“ geliehen, bei Carl Theodor Dreyer, den er neben Tarkowski seinen Meister nennt. Und ist doch, mit knapp vierzig, selber schon einer, der nach dem wilden „Japón“ (2002) und dem noch wilderen „Batalla en el cielo“ (2004) nun seinen dritten, so stillen Film gedreht hat. Doch Vorsicht: „Stellet Licht“ ist genau so anders wie diese beiden, so unendlich anders als alles, was das Kino heute sonst so spielt.
Nebenbei: Wie beglückend, dass dieser so düsterleuchtende Film, schon vor zwei Jahren in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichnet, überhaupt noch auf die Leinwand kommt; fast verglüht.
fsk und Hackesche Höfe (beide OmU)
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