Film "Wer wenn nicht wir": Das Freudlose jener Jahre
Andres Veiel gelingt mit „Wer wenn nicht wir“ ein Porträt der Bundesrepublik vor 68 und RAF - wie kein anderer vor ihm und ohne jede Spekulation auf den „Action-Bonus“ der RAF-Geschichte.
Eines der vielen Verdienste von Andres Veiels Film „Wer wenn nicht wir“ besteht darin, dass er der Versuchung entgangen ist, einen weiteren Film über die RAF zu drehen. Zwar spielt darin Andreas Baader (von Alexander Fehling sympathischer zum Leben erweckt als Baader je war) eine wichtige Rolle, aber im emotionalen Triebwerk des Films bleibt er eine wichtige Nebenfigur. Bevor Baader als Häuptling der RAF Schlagzeilen macht, kommt Veiels Filmerzählung zu ihrem Ende. In ihrem Zentrum steht – wie in Gert Koenens herausragender Studie „Vesper, Ensslin, Bader“, die dem Film als Vorlage gedient hat – ein Liebespaar aus den sechziger Jahren, wie es sich unglücklicher und paradigmatischer nicht erfinden lässt. Gudrun, die hoch intelligente, idealistische Tochter aus einem antifaschistischen evangelischen Pfarrhaus, trifft Anfang der sechziger Jahre in Tübingen auf Bernward, den Sohn des berühmten Nazi-Dichters Will Vesper.
Veiel passt das Paar sozusagen in der Anfangsphase ihrer Begegnung ab – Jahre, bevor sie in der Protestbewegung ihre Rollen finden. Bernward, der anfangs noch ganz unter dem Einfluss seines Vaters steht, will als junger Verleger das Werk des Vaters neu herausbringen und rehabilitieren. Seine Geliebte unterstützt ihn dabei, weniger aus Überzeugung, eher aus Lust an der Provokation und aus Trotz gegen den immer nur verbalen Antifaschismus ihres Vaters.
Als Erster unter den vielen cineastischen Interpreten der Rebellion von 67/68 lässt Veiel sich darauf ein, der Vorgeschichte seiner Protagonisten nachzugehen. Er richtet den Blick auf die fünfziger und sechziger Jahre der Bundesrepublik. Und hier gelingen ihm Szenen und Bilder über diese Zeit, die man zu lange nicht mehr gesehen hat. Mit Genauigkeit und einer Geduld, die Wiederholungen und Längen nicht scheut, beschreibt er die ästhetische Wüste, in der die Generation seiner Protagonisten aufgewachsen ist – das Bräunliche, Gelbliche, Geblümte der Tapeten und Vorhänge, die dunklen Möbel und Schränke, das Eckige, Verklemmte, Freudlose der Wohnungen und ihrer Bewohner, die gelähmten Gespräche am Mittagstisch.
In einer spannenden Studie hat die Historikerin Dagmar Herzog („Die Politisierung der Lust“) gezeigt, dass die Sexualmoral im dritten Reich und in der unmittelbaren Nachkriegszeit entschieden freizügiger war als in den fünfziger Jahren. Erst als die geschlagenen Väter aus dem Krieg heimkehrten und nach langer Abwesenheit ihre Autorität gegenüber ihren Frauen und Kindern wiederherstellten, setzte sich die Kultur der Geräuscharmut und des Puritanismus durch.
Leider hat Veiel seinen Film, vielleicht aus Kostengründen, als ein Kammerspiel organisiert. Die Szenen finden fast ausschließlich in Wohnungen statt, unter Fenstern, in die selten ein Sonnenstrahl fällt; ab und zu öffnet sich eine Tür und ein neuer Mitspieler tritt ein, aber der Zuschauer weiß eigentlich nie, ob er sich gerade in Tübingen, Frankfurt oder in Berlin befindet. Ich jedenfalls vermisse in dem Film die Außenwelt, die Ruinen, die Brachen und die bröckelnden Fassaden mit den Einschusslöchern, zwischen denen ich aufgewachsen bin – und ich vermisse die Freiheit, die Phantasie und den Leichtsinn, die in den Lücken der verwundeten Städte ihren Nährboden fanden.
Auch in den Dialogen, die zu oft und zu brav auf Inhalt getrimmt sind, vermisse ich Freiheit, Überschuss, Lebendigkeit. Wenn etwa die Vermieterin der ersten gemeinsamen Wohnung von Bernward und Gudrun sagt, sie wolle auf keinen Fall einer „sittlichen Verwahrlosung Vorschub leisten“, fehlt ein Nachschlag, ein Zeichen, dass die Wirtin nicht nur eine Ansage zu machen hat, die die Repression repräsentiert. Man kann diesen Mangel an Freiheit und Lebenslust sehr gut aus dem Charakter von Veiels Protagonisten begründen. Denn noch einmal: Ein so unglückseliges, in die Wände ihres Innenlebens eingesperrtes Paar lässt sich schwerlich finden.
Sie besuchen sich nach jeweils gescheiterten Selbstmordversuchen, nur selten gibt es ein gemeinsames Lachen. Zwar sind beide von schöner und politischer Literatur begeistert, saugen jeden neuen Gedanken, jeden Ansatz eines Befreiungsversuchs begierig auf, aber an dem Spaß und der Experimentierfreude der antiautoritären Bewegung nehmen sie kaum Anteil. Ihre rasch wechselnden politischen Positionierungen und ihre Radikalisierung scheinen fast ausschließlich von den internen Dramen ihrer Liebesbeziehung bestimmt. Nur zweimal, beim Rock’n’Roll-Tanz während der Hochzeit und auf der Fahrt nach Berlin, als Gudrun sich aus dem offenen Verdeck des VW streckt und Bernward ihr den Schlüpfer herunterzieht, wird so etwas wie Ausgelassenheit sichtbar. Das Unfrohe, das Steife dieser Beziehung, man kann auch sagen: dieser Jahre, hat Veiel eindrucksvoll abgebildet. Aber die Frage stellt sich, ob man Steifheit durch steife Mittel, die der Ästhetik des Dokumentarfilms verhaftet bleiben, darstellen kann. Bedarf es nicht gerade großer Freiheit beim Inszenieren, um so etwas wie Unfreiheit in Szene zu setzen?
Veiel hat die Sexszenen, die nun einmal zwingend zum Repertoire eines Films über die 68er gehören, mit großer Diskretion inszeniert. Der Zuschauer wird nicht mit Kamerafahrten über schweißnasse Körper und dem Stereo-Keuchen beim gemeinsamen Orgasmus behelligt. Veiel begnügt sich jeweils mit den Anfängen dieser nur selten kameratauglichen Veranstaltung. Aber in meinen Augen hat er eine entscheidende Dimension verpasst. Die Vorlust des Sprechens über die eigenen Begierden, der Wahn und die Anmaßung, unter allen Umständen anders miteinander zu schlafen als die „verklemmten“ Eltern, denen man ein eigenes Sexleben nicht zutraute, kommen in seinem Film nicht vor. Wenn Baader Gudrun in Veiels Film fragt, ob sie es schon einmal mit einer Frau getrieben habe – und sie entsprechend zurückfragt – wirkt dieser Dialog wie auswendig gelernt.
Eine italienische Freundin von mir hat Baader und Ensslin nach ihrer Flucht aus Berlin ihre Wohnung in Rom für drei Wochen überlassen. Als sie wiederkam, war das Treppenhaus halb verbrannt. Überall an den Wänden waren Polaroid-Fotos angepinnt, die Andreas und Gudrun beim Sex in Dutzenden von Stellungen zeigten. Es war, als hätten die beiden den Ehrgeiz gehabt, ihrer Gastgeberin eine lückenlose Dokumentation ihrer Sex-Übungen nach einem indischen Lehrbuch zu überlassen. Viele Fotos jedoch wichen von diesem gedachten Lehrbuch ab. Sie zeigten Sado-Maso-Szenen, in denen Gudrun die Sklavin war. Meine Freundin, die schon einige Guerilleros aus Lateinamerika beherbergt hatte, schwor mir, sie würde nie mehr deutschen Terroristen Unterkunft gewähren.
Wenn Baader in Veiels Film mit Gudrun schläft, sieht es nicht anders aus, als wenn Gudrun mit Bernward zugange ist. Man versteht nicht, warum Gudrun dem sensiblen Bernward mit dem prügelnden und Kinder verachtenden Baader durchbrennt und Bernward den gemeinsamen Sohn überlässt. Ist es wirklich nur, wie Veiel uns anbietet, die Bewunderung für den Tatmenschen, der in einem Kreis von feigen, immer nur „redenden“ Intellektuellen endlich „etwas tut“? Übrigens prügelte Baader seine Gudrun nicht nur, er sprach sie – und Ulrike Meinhof – als Fotze an, was beide Frauen offenbar willig ertrugen. Die Macht des Versprechens einer „revolutionären“ sexuellen Entgrenzung und die Gewaltbereitschaft, mit der Baader seine ihm intellektuell überlegenen Gefolgsfrauen betörte, haben allerdings nicht nur Veiel, sondern auch alle anderen Filme über Baader verpasst.
Aber zum Glück hat Veiel nicht einen Film über Baader, sondern über Bernward Vesper und Gudrun Ensslin gedreht. Wie kein anderer vor ihm – und ohne jede Spekulation auf den „Action-Bonus“ der RAF- Geschichte – hat er uns die Vorgeschichte der 68er-Bewegung und der RAF in Erinnerung gerufen. Ich kann nur mit Bewunderung von den drei Hauptdarstellern sprechen, die es auf sich genommen, uns die merkwürdigen, ihnen selbst wahrscheinlich wildfremden Protagonisten des Films vor die Augen zu stellen, als würden sie unter uns leben: Lena Lauzemi als die erst anrührende, dann zusehends schrille und fanatisierte Schlüsselfigur des Trios, Alexander Fehling als mal sympathischer, mal widerlicher Draufgänger und Schläger, August Diehl als verirrter Bürgersohn, der die blaue Blume sucht und den ganzen Film trägt.
Peter Schneider, geboren 1940, gehörte zu den Wortführern der 68er-Bewegung. Er lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien seine autobiografische Skizze „Rebellion und Wahn“ bei Kiepenheuer & Witsch.
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