Christian Petzold: "Bleiben ist Niederlage"
Der Regisseur Christian Petzold spricht im Interview mit dem Tagesspiegel über Filmtitel, Sehnsuchtsorte und überflüssige Drehbuchdialoge.
Herr Petzold, Ihre Filme haben fast immer kurze, oft rätselhafte Titel: „Gespenster“, „Yella“ oder „Jerichow“. Was macht einen guten Filmtitel aus?
Die besten Titel im deutschen Kino kommen sicherlich von Fassbinder. „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ – das ist sprachlich wunderschön und setzt komplizierte Assoziationen frei. Manchmal beeindruckt mich aber auch ein einzelnes Wort. Wie „Jerichow“. Man denkt, man weiß, worum es dabei geht. Aber ich musste erstmal in der Stadtbibliothek Perleberg nachschlagen, was es damit in der Bibel für eine Bewandtnis hat. Man spürt, dass in so einem komplexen, mythischen Wort eine Menge zusammengeführt ist, dass es sich aber noch nicht erklärt. Deshalb haben auch meine nächsten beiden Filme nur ein Wort im Titel.
„Jerichow“ hätte auch „Rathenow“ oder „Stendal“ heißen können. Der biblische Verweis war Ihnen offenbar wichtig?
Als wir uns bei der Vorbereitung von „Yella“ in Brandenburg und Sachsen-Anhalt aufgehalten haben, ist mir Jerichow gerade durch die biblische Assoziation im Gedächtnis geblieben. Dabei ist mir auch aufgefallen, wie viele Orte im Brandenburgischen Sehnsuchtsorte sind, Philadelphia oder Neu Boston zum Beispiel. Dort lebten Menschen, die weggehen wollten, aber von Friedrich mit Land-Zugeständnissen gehalten worden sind, weil er seine Untertanen nicht verlieren wollte. Wir haben es also mit einem Landstrich zu tun, wo die Orte nicht von Herkunft reden, sondern von der Sehnsucht irgendwo hinzugehen – und gleichzeitig von der Niederlage, geblieben zu sein. Das ist etwas, das tief in die Struktur der Geschichte von „Jerichow“ eingegangen und aus der Landschaft gewonnen ist. Ich glaube nicht, dass man im Chiemgau genauso erzählen könnte.
Thomas kehrt in sein Heimatdorf zurück, Ali sehnt sich nach seiner Heimat Türkei – in einem Interview haben Sie gesagt, es ginge Ihren Figuren um „Heimat-Building“. Was heißt das?
Die Figuren haben ihr Leben völlig in den Sand gesetzt. Sie kriechen wie verwundete Tiere in die Häuser der Eltern zurück. Und jetzt sagen sie sich: Das geht so nicht weiter, ich muss mir wieder etwas aufbauen. Gleichzeitig enthält der Begriff das große Wort „Heimat“. Wenn in Deutschland Leute mit diesem Wort kommen, müssen Ausländer aufpassen. Deshalb fand ich es wichtig, dass es gerade ein Türke wie Ali ist, der mitten in Sachsen-Anhalt das Geld, das Haus und die Firma hat. In der Vorlage von James M. Cain – „Wenn der Postmann zweimal klingelt“ – geht es ja auch um einen Griechen. Dass in Cains Liebesgeschichte auch Rassismus eine wichtige Rolle spielt, fand ich nie genug gewürdigt. Dieser Rassismus ist im Wort „Heimat-Building“ auf furchtbare Weise verborgen.
All das wird, wie gewohnt, mit vielen Leerstellen erzählt: Sie fordern den Zuschauer auf, Auslassungen in der Handlung und der Figurenzeichnung zu ergänzen.
Man sollte die Regisseure, die immer alles ausfüllen, mal fragen, warum sie diesen Scheiß machen. Das ist für einen Zuschauer gedacht, dem man jede Assoziationskraft abspricht. Es hat auch mit Respekt zu tun, wenn sich der Zuschauer zu spärlichen Informationen etwas dazu denken muss. Deshalb ist die Leerstelle nicht leer, sondern ein Resonanzraum. Wenn man stattdessen diese Ich-nehme die- Zuschauer-an-die-Hand- Biographien hat, wo jemand sagt „Ich habe mich als Kind mit dem Bügeleisen verbrannt und mein Vater ist im Krieg gefallen, deshalb bin ich Sexualmörder geworden“, dann kommen dabei durchtherapierte Figuren heraus, die völlig harmlos sind.
Nicht jeder Zuschauer mag es, im Kino aktiv zu werden.
Jeder Hitchcock-, Hawks- oder Michael Mann- Film verfährt doch genauso. Ich verstehe nicht, warum deutsche Filme dem Zuschauer so wenig zutrauen. In den meisten Filmen sind 50 Prozent der Dialoge vollkommener Unsinn – im Fernsehen sogar 80 Prozent. Diese Dialoge sind nur an uns Zuschauer gerichtet. Deshalb arbeite ich so lange an einer Szene, bis das Gespräch nur den Figuren gehört.
Das erinnert an bestimmte Traditionen in der amerikanischen Literatur, Hemingway zum Beispiel. Zuletzt haben Sie mit Ambrose Bierce und James M. Cain zwei Amerikaner als Vorlage benutzt.
Ich lese fast nur europäische Literatur, aber während des Drehbuchschreibens fallen mir fast immer amerikanische Kurzgeschichten ein von Autoren wie Hemingway oder James Salter. Die haben mehr mit Kino zu tun als die europäische Literatur.
Vielleicht hat man deshalb bei „Jerichow“ wieder das Gefühl, es gäbe einen großen Reichtum an Verweisen auf die Literatur und das Kino.
Mit Zitaten habe ich große Schwierigkeiten. In „Yella“ wollten der Kameramann Hans Fromm und ich die Bahnsteigszene wie in „Marnie“ drehen, in „Gespenster“ die Baumkronen wie in „Blow up“ filmen – wir sind immer gescheitert.
Das Kino von Quentin Tarantino, den Coen-Brothers oder Brian De Palma aber wäre ohne Zitate nicht vorstellbar.
Die kommen aus Hollywood und zitieren in einem reichen Raum. Wenn wir in Europa das amerikanische Kino zitieren, heißt das, wir schämen uns. Gleichzeitig ist die deutsche Filmtradition nicht tief genug verankert im allgemeinen Bewusstsein. Das war in den zwanziger Jahren anders, bei „Nosferatu“, „Caligari“ und „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“. Aber heute? Ich glaube nicht, dass „Das Leben der Anderen“, „Der Baader-Meinhof Komplex“ oder „Anonyma“ Bilder produziert haben, die wir zitieren werden. Tom Tykwer hat das geschafft, mit den roten Haaren von Lola – aber außer ihm?
Das Gespräch führte Julian Hanich.
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