Kinostart: Blaubeerkuchen
Blau sind die Nächte der Norah Jones. Von Liebeskummer getrieben, kehrt sie ein in das Café, das Jude Law in New York betreibt. Der tröstet sie: mit Blaubeerkuchen und Aufmerksamkeit.
Blueberry Pie, allein das Wort geht wie Musik über die Lippen. Dabei ist es das Aschenputtel der Kuchentheke. Alle wollen Apple Pie, erzählt Jude Law alias Jeremy in Wong Kar Wais neuem Film „My Blueberry Nights“. Apple Pie sei immer als Erstes weg, Cheesecake gehe auch fantastisch, aber jeden Abend bleibe ein ganzer Blueberry Pie übrig. Was denn nicht stimmt mit dem, will Norah Jones alias Elizabeth wissen. Nichts, antwortet Jeremy. „Die Leute treffen nur eine andere Wahl. Der Blueberry Pie kann nichts dafür.“ Daraufhin will Elizabeth genau davon ein Stück. Sitzen gelassen wurde sie schließlich selber gerade. In einer verheulten Nacht schafft sie einen ganzen Kuchen, und als sie dann vor Erschöpfung eingeschlafen ist, küsst Jeremy ihr die Krümel vom Mund.
Filme sind Filme, die müssen ja mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Der Blueberry Pie kann nämlich sehr wohl was für sein Aschenbrödeldasein: „Er suppt.“ Cynthia Barcomi, die den Berlinern die ersten Bagel gebacken und sie New York Cheese Cake lieben gelehrt hat, weiß das nur allzu gut: Blaubeeren sind heikel. Zumindest die kleinen, wilden, die sie aus der Tiefkühltruhe bezieht; die gezüchteten Kulturheidelbeeren benutzt sie gar nicht. Körbeweise kriegt man die im Sommer auf dem Markt, dick und prall, aber meist geschmacklos und innen farblos: Bei den Zuchtbeeren ist nur die Schale blau, das Fleisch ist weiß. Dafür machen sie keine blauen Zähne.
Vielleicht schreckt ja auch die Farbe ab. Blau signalisiert bei Lebensmitteln oft: giftig. Dabei sind Blaubeeren wie die meisten dunklen Beeren besonders gesund. Sie stecken voller Vitamine und Magnesium, schützen vor freien Radikalen, sollen vorbeugen gegen Blasenentzündung, gegen Kopfschmerzen helfen und den Cholesterinspiegel senken. Und doch wirken sie fast altmodisch gegen die heute so modischen Cranberrys.
Cynthia Barcomi macht aus Blaubeeren vor allem Muffins. Nur sind die kleinen wilden Beeren so saftig, dass sie beim Rühren des Teigs ganz vorsichtig sein muss, weil die Früchte sonst platzen und alles blau färben, „das sieht krank aus“. Gut abtropfen müssen sie auch (gründlich waschen muss man die wilden Beeren immer, wegen der Gefahr des Fuchsbandwurms), aber schütteln darf man sie nicht, dann platzen sie wieder. Und um die Säfte zu binden, braucht man für die Pie-Füllung ziemlich viel Mehl oder Maisstärke.
Aber selbst dann bleibt das Problem: Es suppt. Deswegen lässt Cynthia Barcomi den Boden am liebsten ganz weg, legt nur einen Biskuitteigdeckel oder Streusel auf die Früchte oben drauf. „Da darf die Suppe Suppe sein.“
„Miss American Pie“ wird die 44-Jährige gern genannt. Dabei ist sie, genau wie Jude Laws Jeremy, gar nicht Bäckerin, sondern Quereinsteigerin. Philosophie und Theaterwissenschaften hat sie an der Columbia University studiert, als Tänzerin ist sie in den 80er Jahren nach Berlin gekommen, hat sich verliebt in ihren deutschen Mann und vor 13 Jahren in Kreuzberg einen kleinen Coffeeshop aufgemacht, einen der allerersten der Stadt, der dem von Jude Law in New York ziemlich ähnlich ist. Ein paar Jahre später folgte noch ein etwas schickeres Deli in Mitte, das war’s, trotz des Erfolgs. Mehr Filialen möchte Barcomi nicht eröffnen, „ich will mich der Kettenmentalität nicht anschließen“.
Aber weil es der Amerikanerin nicht reicht, zwei Cafés, einen Cateringbetrieb und vier Kinder zu haben – 1, 4, 14 und 20 Jahre alt – und jeden Morgen um viertel nach sieben ins Fitnessstudio zu gehen („das brauche ich, sonst werde ich zum Monster“), hat sie sich eine neue Herausforderung gesucht: Kochbücher schreiben. Gerade ist ihr erstes Backbuch erschienen (Mosaik/Goldmann Verlag, 16,95 Euro), in dem steht genau beschrieben, wie man einen Pie macht.
Das Wichtigste, erzählt Barcomi: Kalt müssen die Zutaten sein, eiskalt die Butter und das Wasser. Es gibt sogar Leute, die ihre Küche auf zehn Grad kühlen und die Schüssel vorher ins Tiefkühlfach stellen. Blitzschnell muss der Teig geknetet werden, nicht mit der warmen Handfläche, wie beim Hefeteig, nein, bloß nicht, nur mit den Fingerspitzen: Die Tänzerin wirbelt mit ihnen zur Demonstration durch die Luft. Und dann ganz schnell, „pppfff“, ab in den Kühlschrank. Denn nur dann wird der Teig so blättrig, wie er sein soll, und nicht pappig oder steinhart; deswegen nimmt Barcomi auch neben der Butter noch hartes Palmfett. Und ganz, ganz heiß muss der Pie gebacken werden. „Kkrrkrrkrr!“
Wenn Cynthia Barcomi auf ihre Kuchenvitrinen im Café guckt, sieht sie ihr ganzes Leben vor sich: aus jeder Phase das dazugehörige Gebäck. „Chocolate chip cookies, da war ich 3.“ Muffins: 9. Brownies: 12. Carrot Cake: 16. Das weiß sie genau, da war sie im Mädcheninternat, da haben sie ihr ihre Entschlossenheit beigebracht, „das Wissen, dass man selbst verantwortlich ist für das, was man mit seiner Zeit tut“. Das ist für die selfmade woman seitdem das Allerschlimmste: abhängig zu sein von anderen. Beim Umbau ihres Hauses in Zehlendorf hat sie drei Architekten verschlissen, bis sie ihrem Mann die Bauleitung übergab.
Nach dem Internat kam dann das Studium in New York, da hat sie, mit 18, 19, Cheesecake und Bagels lieben gelernt. In Berlin schließlich, mit Anfang 20, hat sie keine amerikanischen Kuchen mehr gefunden, sondern selber erfunden. Chocolate Cheese Cake zum Beispiel.
Blueberry Pie ist nicht Teil der kulinarischen Biografie von Barcomi. In Seattle, wo sie aufgewachsen ist, gab’s Brombeeren, keine Blaubeeren, die wachsen bis heute vor allem an der Ostküste – sie brauchen schattige, feuchte Standorte und sauren Boden, wachsen vorzugsweise in Heide, Moor und Wald.
Aber Apple Pie, den haben Mutter und Großmutter gebacken, der steht auch als Einziger in ihrer Café-Vitrine: Ihre Kunden sind so konservativ wie die von Jude Law, „für die ist Pie immer Apple Pie“. Er wird, wie alles hier, jeden Tag frisch gebacken, was am Abend übrig bleibt, geht an die „Berliner Tafel“, die den mächtigen Kuchen an Bedürftige verteilt. Bei Barcomi hat der Pie allerdings statt des Teigdeckels ein Gitter. In den Deckel müsste man ein Loch reinbohren oder eine Keramik-Amsel setzen, um den Dampf rauszulassen. Irgendwas obendrauf muss der Pie allerdings schon haben, sonst ist er keiner mehr. Oben ohne wird er zur tart, zum „topless pie“, wie ein Lexikon definiert.
Apple Pie ist bis heute der Inbegriff von Amerika. „As American as apple pie“ heißt ein geflügeltes Wort. Dazu gibt’s meistens eine Kugel Eis: „à la mode“, so isst ihn auch Norah Jones im Film. Oder, ja: mit Käse, und zwar kräftigem. „Apple pie without cheese/Is like a kiss without a squeeze“, sagt ein altes Sprichwort.
Eine amerikanische Erfindung allerdings ist der Pie nicht. Die englischen Siedler hatten ihn mitgebracht. In der frühen Zeit war die Teighülle allerdings oft so steinhart, dass man sie gar nicht essen konnte – auch nicht sollte, sie diente als Gefäß. Es waren wohl vor allem deutsche Einwanderer, die Amish und Mennoniten, die die Rezepturen verfeinerten.
Es gab eine Zeit, als viele Amerikaner auf dem Land jeden Tag Apple Pie aßen, morgens, mittags, abends. Nicht, weil sie den Kuchen so liebten, sondern weil sie sich nichts anderes leisten konnten. Äpfel gab’s immer, wenn nicht frisch, dann getrocknet, Mehl und Talg für den Teig hat man auch irgendwie zusammengekratzt, selbst wenn man sonst nicht viel hatte. Es gab sogar Rezepte für falsche Apple Pies. Beim berühmtesten werden die Früchte durch Cracker ersetzt – Ritz druckt das Rezept bis heute auf den Packungen ab –, notfalls mussten es in Essig getränkte Kartoffeln tun.
Durch die Einführung des Backpulvers, die allgemeine Industrialisierung und die Berufstätigkeit der Frau änderte sich die Kuchenkultur. Aus dem Alltags- essen wurde ein Sonntagsgebäck, das immer häufiger eher aus dem Supermarkt als aus dem eigenen Backofen kam. Wenn nicht der ganze Pie, so doch zumindest der vorgebackene Boden. „Was ihn vielleicht am Leben gehalten hat“, so Pat Willard, Autorin des Buches „Pie Every Day“, „waren die gelungenen Exemplare, über die man in Familienrestaurants oder Diners am Straßenrand stolperte“. Auch wenn der Pie, wie gute Hausmannskost in aller Welt und jede Form von comfort food, inzwischen eine gewisse Renaissance erlebt, braucht er heute offenbar Unterstützung: So wurde der National Pie Council gegründet, der den 23. Januar zum National Pie Day erkoren hat.
„Oh, Blueberry Pie, sad and shy,/won’t you come out of your shell?/Life is swell, so are you!/Please don’t be so very blue“, versuchte schon Bette Midler Aschenputtel mit einem Lied auf die Liebe und das Leben aus der scheuen Reserve zu locken. Norah Jones hat sich das offenbar zu Herzen genommen. Nach einer Odyssee als Kellnerin durch verschiedene Diner in Amerika kehrt sie am Ende von Wong Kar Wais Film zurück zu Jude Law und isst, natürlich, wieder Blueberry Pie. Dann wird endlich richtig geküsst. Und aus dem Kuchen fließen die Säfte in Strömen. So viel Symbolik war nie. Eine bessere Werbung für Blueberry Pie auch nicht.
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