Filmfestival Cannes: Alles ist Kopie - oder doch nicht?
jan@cannes, das Festival-Tagebuch: Der iranische Altmeister Abbas Kiarostami präsentiert sich in Bestform, mit einer doppelbödigen Liebesgeschichte mit Juliette Binoche. Aber die eigentliche Überraschung schafft Xavier Beauvois.
Cannes ist schön, inzwischen auch schön warm, aber vor allem unbarmherzig. Von den Festivaliers fordert es geistige Fitness von frühmorgens bis nachts, und das ohne Pause zwölf Tage lang. Und um die rezeptive Leistungsfähigkeit des Publikums zu testen, terminiert das Protokoll morgens um halb neun gern mal Filme, die zu beträchtlichen Teilen aus a cappella dargebotenen Mönchsgesängen bestehen. Manch einer knickt und nickt dabei ein. Ist der Film aber großartig, weckt er auch das schlappste Hirn.
Xavier Beauvois' "Des hommes et des dieux" erzählt mit enormer formaler Strenge und inhaltlicher Tiefe ein grausames zeithistorisches Ereignis nach. Im Frühjahr 1996 waren sieben Zisterziensermönche aus ihrem Kloster im algerischen Tibhirine als Geiseln verschleppt worden. Zwei Monate später fand man ihre Köpfe an einer Landstraße. Die Umstände des Verbrechens, das islamistischen Terroristen zugeschrieben wird, sind bis heute nicht ganz geklärt. "Des hommes et des dieux" tut scheinbar nicht viel mehr, als in aller Bescheidenheit die Monate vor dem Verbrechen nachzuerfinden – dies aber mit so viel Konzentration und Sensibilität, dass es am Sonntag für die Goldene Palme reichen könnte.
Die Mönche des maghrebinischen Klosters um Abt Christian (Lambert Wilson) leben in Harmonie mit den islamischen Bewohnern der umliegenden Dörfer, und Mönch Luc (Michael Lonsdale) ist ein gütiger Allgemeinarzt für alle. Ihre erste Glaubensprüfung erleben sie, als das Kloster von Rebellen heimgesucht wird, die mit der Waffe in der Hand die Herausgabe von Medikamenten verlangen. Nachgeben oder standhalten? Standhalten, ist die Antwort des Abts. Der Schock aber löst, auch angesichts sich häufender terroristischer Gewalttaten in der Umgebung, die grundsätzliche Frage aus: Bleiben oder – zurück nach Frankreich - fliehen?
Den Prozess, wie die Mönche sich in gemeinsamer, keineswegs unkontroverser Selbstbefragung und großer Freiheit zum Bleiben entschließen, untersucht der Film in aller Sorgfalt und Gelassenheit. Sie haben sich zu einem Leben in Armut und Menschenfreundlichkeit entschieden, was jedweder externer Parteinahme widerspricht, und stellen ihre Haltung unter den gefährlichsten Verhältnissen unter Beweis. Letztlich gibt allein der Glaube ihnen die Kraft, dem Druck der fundamentalistischen Rebellen und auch der immer feindseligeren Regierungstruppen zu widerstehen. Wie das geschieht, immer wieder von äußerer Herausforderung zu innerer Prüfung, ist in jedem Augenblick durchsichtig - und grandios aufregend.
Einmal sagt Abt Christian: "Unsere Mission ist es, Brüder für alle zu sein" - und tatsächlich enthält der Film viel mehr "Nathan der Weise"-Gedankenwelt als Werbung für das Christentum, die ihn für Konfessionsferne oder Andersgläubige sofort unerträglich machen würde. Er zeigt nur eine verschworene Gemeinschaft bei dem Versuch, inmitten einer entfesselt gewalttätigen Welt den Glauben an die Vernunft zu bewahren - und zu verkörpern. Ein Kunststück, denn die Hauptfiguren bleiben doch unübersehbar Christen. Ein Meisterstück.
"Copie conforme": Ein fantastisches, ästhetisches und kognitives Experiment
Unterhaltungsfutter ist solches Kino nicht, dafür ungeheuer sauerstoffreich. Gleiches ließe sich von den Filmen des Iraners Abbas Kiarostamis sagen, von seinem stets karg instrumentierten Erzählminimalismen, die bei genauerem Hinsehen philosophische Universen enthalten. Im Wettbewerbsbeitrag "Copie conforme" versucht er sich zur Abwechslung an einer List: Sein erster Spielfilm seit "Ten" (2002) hebt als flüchtiges Divertimento an und verwandelt sich unmerklich in ein fantastisches, ästhetisches und kognitives Experiment. Was, wenn "Copie conforme" zwei konträre Lesarten zulässt – die eine die Kopie der anderen und umgekehrt?
Ein britischer Schriftsteller (William Shimell) liest in einer toskanischen Stadt aus seinem Essayband vor, der den Titel des Films trägt. Eine Französin (wie immer sublim: Juliette Binoche) – sie lebt seit fünf Jahren in Italien und betreibt einen Laden mit Reproduktionen alter Meister - kauft einige Exemplare des Buchs und lädt den Schriftsteller auf eine Autofahrt ins nahe Lucignano ein. Ein Flirt, vielleicht. Ein bisschen Zeit, die sich zwei Fremde schenken. Der Mann, so sagt er, muss abends den Zug nehmen.
Was da aber in betont klischeehaftem Toscana-Setting und bildungsgesättigten Dialogen à la Manoel de Oliveira beginnt, enthält bald wundersame Widerhaken. Als eine Caféwirtin im von Hochzeitspaaren geradezu überfluteten Lucignano die beiden für ein Ehepaar hält, spielen sie das Spiel mit. Bald reden sie wie ein Paar, das sich auseinander gelebt hat, der Tag geht dahin, aus Spiel wird Streit und eine Art Ernst – oder nicht? Haben die zwei nicht vor 15 Jahren gerade hier geheiratet und in jener Pension übernachtet, an die nur der Mann sich nicht erinnern will?
Alles ist Kopie: Das ist die Hauptthese im Buch des Schriftstellers. Wir alle nur die Kopie unserer Vorfahren. Die Mona Lisa nur die Kopie der Frau, die dem Maler Modell stand. Also: Alles Wiederholung, Nachahmung, Spiel. Und so verwandelt sich der Tag in Lucignano unmerklich in die Kopie eines anderen, und ein faszinierendes Schillern zwischen Original und Nachbildung, Realität und Fiktion, Ernst und Spiel beginnt – wer's mag, fantasiere sich durch ästhetische Theorien von der antiken Mimesis bis zum barocken "Leben als Traum". Das Paar: noch keines oder längst ein gewesenes? Oder weiter gefragt: Wenn Liebende im Leben sowieso immer nur spielen, dass sie sich vertraut sind, warum nicht zur Abwechslung mal so tun, als seien sie einander fremd?
Jetzt aber raus aus dem Kino, in die Welt da draußen, die mit dem so genannten festen Boden unter den Füßen. Bei einem Mittagessen ein paar Schritte von der Croisette wird für "Babycall" des norwegischen Regisseurs Pal Sletaune geworben, den soeben abgedrehten neuen Film mit Noomi Rapace. Richtig, diese Schauspielerin kannte niemand, bevor sie Lisbeth Salander war - die wilde, wütende Rächerin aus der "Millennium Trilogie", deren letzter Teil in zwei Wochen ins Kino kommt. Und auf einmal ist sie ein Weltstar, das Mädchen, das ohne Vater in Island und Schweden aufgewachsen ist und abgehauen mit 15 nach Stockholm. Nach dem Dessert dürfen ein paar Journalisten ein paar Fragen stellen, und Noomi Rapace antwortet ernsthaft, spielerisch, neugierig auf sich selbst. Abbas Kiarostamis Film könnte ihr gefallen.
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