Alice Munros Buch "Zu viel Glück": Kinderspiele und andere Tragödien
Moralische Erzählungen: Zum 80. Geburtstag der großen kanadischen Schriftstellerin Alice Munro erscheint ihr zwölfter Kurzgeschichten-Band „Zu viel Glück“
Alice Munro, da sind sich so ziemlich alle einig, ist die größte, die wichtigste Kurzgeschichten-Autorin der Gegenwart. Deshalb wird sie jedes Jahr wieder zur Anwärterin auf den Literaturnobelpreis ausgerufen, den sie jedes Jahr wieder nicht bekommt. Anton Tschechow hat ihn auch nicht bekommen, und ein zweites Markenzeichen, das Alice Munro gern angehängt wird, lautet: „Kanadas Tschechow“. Sie habe, schrieb mal jemand, den gleichen scharfen Blick fürs Detail und die gleiche Empathie für Menschen jeglicher Ausprägung.
Auch der beschränkte Erzählradius ist ähnlich. So wie Tschechow hauptsächlich über melancholische Menschen aus der russischen Provinz geschrieben hat, so spielen auch die meisten Erzählungen Munros in der immer gleichen kanadischen Landschaft rund um den Lake Huron, also ungefähr in der Gegend, in der die Tochter eines Fuchszüchters und einer theatralischen Mutter 1931 als Alice Laidlaw geboren wurde und in der sie seit Jahrzehnten wieder lebt.
Hier hört der Tschechow-Vergleich aber auch schon auf. Denn das Besondere, das Unerhörte, das immer wieder in den Bann ziehende an den Erzählungen von Alice Munro sind deren unvergleichliche Konstruktion, ihr verschlungener Bau, die schnellen Wendungen, Rückblenden und tänzelnden Perspektivwechsel, die dem Leser immer wieder eine verblüffende Figurenfacette offenbaren und nach der Lektüre den Eindruck „einer gestaltartigen Vollständigkeit der Wiedergabe eines Lebens“ erwecken, wie es der Schriftsteller Jonathan Franzen kompliziert, aber zutreffend formuliert hat.
Ihr Oeuvre umfasst einen Kurzroman und zwölf Bände mit Erzählungen. Als sie den ersten Erzählungsband „Tanz der seligen Geister“ 1968 veröffentlichte, war sie schon Ende dreißig, seit fünfzehn Jahren mit Jim Munro verheiratet und Mutter von vier Töchtern, von denen eine im Alter von zwei verstorben war. Obwohl Alice Munro schon als Kind geschrieben hatte, blieb das Schreiben bis weit ins Erwachsenenleben hinein schambehaftet, etwas, das es besser zu verheimlichen galt und nur schwer mit einem konventionellen Leben als Ehefrau und Mutter zu vereinbaren war.
Sie selbst hat das Schuldgefühl autobiografisch erklärt. Als sie zehn Jahre alt war, erkrankte ihre Mutter an Parkinson. Statt sich um sie zu kümmern, habe sie sich in ihre Welt zurückgezogen und Geschichten geschrieben. „Hätte ich statt dieses inneren Feuers mehr Wärme gehabt, hätte ich ihr sehr helfen können.“ Es ist wohl kein Zufall, dass ihre erste Ehe nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Buchs zerbrach. Mit ihrem zweiten Mann, dem Geografen Gerald Fremlin, den sie 1976 als schon anerkannte Schriftstellerin heiratete, ist sie noch immer zusammen.
Immer wieder variieren, umkreisen, inszenieren ihre Erzählungen den Zwiespalt dieser beiden Urszenen, spielen mit Motiven, Figurenkonstellationen und inneren Konflikten, die sich aus ihnen ergeben. Der Wunsch, behütet und regelkonform leben zu wollen, ringt mit einem Freiheitsdrang. Freiheit aber (also auch: Schreiben) bedeutet Verrat – und der wird irgendwann bestraft oder will ein Leben lang ausgehalten sein. Das Feine und Präzise der Darstellung, Alice Munros Witz, ihre pointillistische Leichtigkeit, mit der sie Jahrzehnte in einem Absatz zusammenschnurren lassen kann, kontrastiert dabei auf unheimliche Weise mit einer gnadenlosen Logik von Schuld und Sühne.
Das gilt auch für die meisten der zehn Erzählungen aus ihrem neuesten Band „Zu viel Glück“. So trifft zum Beispiel in der Geschichte „Tieflöcher“ eine Mutter, deren Sohn als Kind in ein tiefes Waldloch gefallen ist (ihre Nachlässigkeit?), ihn Jahrzehnte später als halb verrückten, obdachlosen Aushilfsprediger wieder. Ungewöhnlich an den neuen Geschichten ist allerdings das Ausmaß des Verrats, dem die Figuren sich zu stellen haben. Es geht nicht mehr nur um Trennung, Betrug, Vernachlässigung, in drei Geschichten werden Morde verübt, in der Erzählung „Kinderspiele“ sogar von der Hauptfigur selbst, die mit einer Freundin als Kind eine Klassenkameradin ertränkte, das Geschehen vergaß und als alte Frau in der stumm vor sich hinvegetierenden Mittäterin von einst die Fratze der eigenen Verdrängung erkennt.
In der Anfangsgeschichte „Dimensionen“ merkt der Leser erst mit der Zeit, dass der Mann, den die junge Doree im Gefängnis besucht, die drei gemeinsamen Kinder getötet hat. Die Erzählung ist deshalb so ungeheuerlich, weil sie den Prozess nachvollziehbar macht, in dem Doree, die anfangs in einer Therapie das Geschehene zu verarbeiten sucht, trotz inneren Widerstands wieder unter den Einfluss ihres Mannes gerät und gegen ihren Willen dessen verquere Sicht der Dinge übernimmt. Er behauptet, Kontakt zu den Toten zu haben. Der, der ihr das denkbar Schlimmste angetan hat, wird auf perverse Weise zu ihrem Tröster.
Die vielleicht aufschlussreichste Geschichte kommt aber ohne Mord aus. „Erzählungen“ heißt sie und führt auf Munro’sche Weise, also durchsichtig und undurchschaubar zugleich, auch die Methodik ihres Arbeitens vor: Damals war die Musiklehrerin Joyce mit Jon glücklich, bis er sie wegen einer jüngeren Frau verließ, deren Tochter die Lehrerin damals in der Schule unterrichtete. Jetzt ist Joyce eine glückliche ältere Dame, zum zweiten Mal verheiratet, die alten Wunden sind längst verheilt.
Da trifft sie auf einem Familienfest eine junge Frau, in der sie ihre ehemalige Schülerin zu erkennen glaubt. Die ist inzwischen Schriftstellerin und liest wenige Tage später aus einem Erzählungsband, den Joyce sich sofort kauft und in dem sie eine Geschichte entdeckt, die das Drama von damals erzählt. Nur eben aus Sicht des Kindes. Und nicht als Tragödie, sondern als Glücksgeschichte. Joyce hatte sich nämlich intensiv um das Mädchen gekümmert, nicht aus Fürsorge, sondern um durch sie an Informationen über die Frischverliebten zu gelangen. Je mehr sie von der Liebe des Mädchens zu seiner Musiklehrerin liest, desto krasser wird ihr deutlich, wie sehr sie das Mädchen benutzt hat.
Während ihr zweiter Mann nichts ahnend neben ihr liegt, droht ihre ganze Welt zusammenzubrechen. Schlechtes Gewissen, Hoffnungen, Rechtfertigungen – bang projiziert die Protagonistin den Fortgang der Handlung nach jedem Absatz, als fälle allein der die Entscheidung über ihr moralisches Selbst. Natürlich kommt alles anders. Und es ist wieder nur ein einzelner, lapidarer Munro-Satz, der ein ganzes Leben in einem wieder neuen, dritten Licht erscheinen lässt.
Am heutigen Sonntag feiert Alice Munro, die ewig junge Meisterin der weisen Wendung, ihren 80. Geburtstag.
Alice Munro. Zu viel Glück. Zehn Erzählungen. Aus dem Englischen von Heidi Zerning. S.Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2011. 363 Seiten, 19,95 €.
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