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Cornelia Funke, 2004.
© Imago

Interview mit Cornelia Funke: „Kinder finden das Böse cool“

Cornelia Funke ist die Spezialistin für Phantasie und wundersame Namen. Sie sagt: Ich gehe gern im Hirn von anderen Menschen spazieren.

Cornelia Funke, 46, hat mit ihren fantastischen Geschichten eine Auflage von mehr als drei Millionen Büchern erreicht. Allein „Tintenherz“ verkaufte sich 400 000 Mal und wird jetzt in Hollywood verfilmt. Funke wird gerne mit der Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling verglichen, sie wohnt mit ihrer Familie am Stadtrand von Hamburg.

Frau Funke, wollen Sie eine Tasse Kaffee?

Danke, ich habe mir eine Pause verordnet. Ich merke plötzlich mein Herz. Das ist nichts Schlimmes, aber es passiert bei zu viel Stress. Und wenn man wie ich 80 Mal geflogen ist in diesem Jahr, London, Madrid, Venedig, New York, immer wieder Los Angeles. Jetzt im Januar gehe ich mit meiner Familie nach Kalifornien, einfach mal drei Monate raus aus allem.

Warum ausgerechnet Kalifornien?

Ich liebe – obwohl Bush wiedergewählt wurde – Amerika. Ich liebe die Freundlichkeit der Leute überall, und Kalifornien mag ich besonders gern. Es ist diese seltsame Wild-West-Sehnsucht, die wir Deutschen ja schon als Kinder hatten, weil wir Karl May gelesen haben. Kalifornien hat so etwas Unfertiges, immer noch Aufbruchhaftes.

In Hollywood wird gerade Ihr Buch „Tintenherz“ verfilmt, in dem sich – meistens böse – Romanfiguren unter wahrhaftigen Menschen bewegen und allerlei Unheil anrichten. Wie kam der Kontakt zustande?

Mein Buch „Der Herr der Diebe“ war auf der Bestsellerliste der „New York Times“. Nach dem Erfolg waren die Studios natürlich an anderen Büchern interessiert. Nun ist es der Produzent vom „Herrn der Ringe“, der „Tintenherz“ realisiert.

Nicht alle Autoren schätzen es, wenn ihre Bücher verfilmt werden. Denn dadurch werden der Phantasie des Lesers und Zuschauers ja Grenzen gesetzt.

Es kann aber auch passieren, dass die Filmbilder helfen, überhaupt eine Vorstellung zu entwickeln. Als ich das erste Mal die Verfilmung vom „Herrn der Ringe“ gesehen habe, habe ich gedacht wie Sie. Bis zu der Szene von Moria, dem Bergwerk der Zwerge. Da wurde meine Vorstellungskraft überwältigt vom dem, was Peter Jackson sich vorgestellt hat. Ich empfand das als Bereicherung.

Sie haben sich in Hollywood ungewöhnlich viele Rechte erkämpft: Sie durften den Drehbuchautor mit aussuchen, der Hauptdarsteller ist Ihre Wahl, Sie haben den Regisseur vorgeschlagen – um die Kontrolle über Ihr Werk zu behalten?

Ich habe gar keine Angst vor Veränderungen. Ein Buch ist ein Buch und ein Film ist ein Film. Und das ist eine ganz andere Kunstform.

Ihre Figuren heißen Capricorn, Staubfinger, Schwefelfell, Natternkopf. Wie kommen Sie auf so wundersame Namen?

Da suche ich lange. Ich zeichne meine Figuren ja nicht ganz deutlich, sondern ich versuche, über den Namen eine Assoziation zu erzeugen, da muss der Name schon ziemlich ausdrucksvoll sein. Ich suche in Lexika, in Telefonbüchern, lese mich durch die Insekten- und Pflanzennamen. Unsere Vorfahren waren viel einfallsreicher. Sie hatten für die meisten Wildblumen und Heilkräuter Hunderte von Namen. Sehr schöne, sehr klangvolle, sehr beschreibende Namen. Man entwickelt eine andere Bindung an Personen mit einem schönen Namen. Ich glaube, dass wir das heute unterschätzen. Früher hielt man es für schicksalsträchtig, wie man ein Kind nannte und was der Klang bedeutete. Heute wird eher nach Namensmoden gegangen.

Wie heißen eigentlich Ihre Kinder?

Meine große Tochter, sie ist 14, heißt Annalena, aber sie mochte die Lena daran nie, also nennen wir sie Anna. Der kleine ist zehn und heißt Ben. Als wir merkten, wir bekommen einen Sohn, lag das nahe: Benjamin, der Sohn des Glücks. Und der kommt auch schon in so vielen Büchern bei mir vor.

Die meisten Namen für Ihre Romanfiguren erarbeiten Sie sich also sehr strategisch. Ist Phantasie eine intellektuelle Leistung?

Nein, das ist emotional. Ich glaube, man kann der Phantasie intellektuell auf die Sprünge helfen, oder man kann sie zurückhalten, um nicht in Klischees zu verfallen. Wenn man intellektuell mit Phantasie umgeht, ist sie viel zu gezügelt. Phantasie wird erst interessant, wenn man das Unterbewusste rein lässt. Oder auch das Überbewusste.

Wie kommen Sie da ran?

Darauf weiß ich keine Antwort. C.G. Jung hat diese wunderbare Theorie über das kollektive Unterbewusste entwickelt. Ich bin ganz sicher, dass es so etwas gibt. Es ist ja sehr seltsam, wie bestimmte Themen zu bestimmten Zeiten an ganz verschiedenen Orten der Welt, gerade in der Kunst, hochspülen.

Nicht nur Kinder sind zurzeit sehr an Fantasy-Geschichten interessiert. Ist das eine Mode?

Das phantastische Erzählen hat es immer gegeben, schon im Märchen und im Mythos. Unsere Vorfahren waren sich bewusst, dass phantastische Erzählung symbolisch arbeitet. Und dass ein Bild manchmal sehr viel mehr an Bedeutung vermittelt als ein Wort. Fantasy-Literatur ist im Moment kommerziell unglaublich erfolgreich durch Harry Potter. Die Verlage wollen einen neuen Harry Potter entdecken. Das phantastische Erzählen hat aber auch zuvor Klassiker hervorgebracht: Dr. Doolittle, Peter Pan, „Die unendliche Geschichte“ oder „Momo“ von Michael Ende.

Wann begannen Sie damit, Geschichten zu erfinden?

Ich musste schon als Teenager meinen kleinen Geschwistern Geschichten erzählen. „Erzähl uns doch mal eine neue Folge von Raumschiff Enterprise“, sagten die zum Beispiel. Ich habe oft Fernsehgeschichten fortgesponnen. Meine Großmutter konnte auch gut Geschichten erfinden.

Ihnen ist diese Gabe in die Wiege gelegt worden.

Die Anfänge, vielleicht. Der Rest ist Arbeit. Wir haben in Deutschland das vollkommen abstruse Bild, dass man als Künstler geboren wird. Aber der Schriftsteller ist ein Handwerker. Auch wenn man dafür natürlich Talent braucht, es ist Handwerk.

Das phantastische Schreiben wird auch an den Schulen aufgegriffen: Die Kinder verfassen heute Aufsätze über Kobolde anstatt über ihr schönstes Ferienerlebnis. Und es kommen großartige Texte dabei heraus, sagen Lehrer.

Absolut. Und jetzt bedenken Sie: Eine Zeit lang war das phantastische Schreiben bei uns richtig tabuisiert. Es wurde als Weltflucht gebrandmarkt, wenn man sich mit seiner Phantasie an andere Orte versetzte. Oder wenn man sich etwas vorstellte, das es nicht gab. Es gibt ja diesen schönen Satz von Tolkien: „Wer hat denn etwas gegen Flucht. Doch nur der Kerkermeister.“ Gerade wenn man sich mit der Phantasie befreit, versetzt man sich auch wieder in die Lage, mit der Wirklichkeit umzugehen. Denn in dem Moment, in dem man denkt, dass alles so ist wie es ist, nimmt man es ja für gegeben.

Lässt sich die Phantasie trainieren?

Ja, das ist eben das Handwerk daran. Man braucht dazu den Austausch mit anderen Künstlern. Ich lese zum Beispiel gerade die Klippenland-Chroniken von Paul Stewart und finde sie ausgesprochen gut geschrieben. Ich lese auch Lyrik, ich lese Sachbücher, ich lese alles. Man spaziert dabei ja in dem Hirn von anderen Menschen herum, das ist immer inspirierend.

Haben Sie nicht den Anspruch, dass Ihr Werk etwas ganz Eigenes sein muss?

Das ist ja vollkommen falsch. Bach hat skrupellos bei Vivaldi und anderen Komponisten gestohlen, und auch umgekehrt. Das galt überhaupt nicht als Tabu, weil man sich als Gilde betrachtete: Man lernte vom anderen.

Sie sagen über sich selbst, sie seien anglophil.

Ja, ich liebe die angelsächsische Literatur und habe mir eingebildet, das würde man meinen Büchern anmerken. Aber nun sagen mir die Leute immer wieder, wie wahnsinnig deutsch sie sie finden. Wir sind offenbar alle viel stärker von Rilke oder Eichendorff beeinflusst. In der Weise etwa, in der wir den Herbst sehen und beschreiben. Die Natur inspiriert mich, deshalb muss ich auch außerhalb der Stadt leben.

Die Ideen kommen, wenn Sie im Wald spazieren?

Mein Gott, ich kann gar nicht schnell genug aufschreiben, was mir dort alles einfällt. Es geht darum, etwas Nichtmenschliches um mich herum zu haben. Ich habe Zettel dabei und einen Stift und lehne mich an einen Baum und schreibe das schnell in Stichpunkten auf. Aber es inspirieren mich auch Menschen: Kinder, Familie, Freunde.

Sind manche Charaktere Ihrer Bücher den Menschen, die Sie kennen, ähnlich?

Nein, das mache ich nicht. Ich möchte ja Freunde und Nachbarn behalten. Man darf Menschen, die einem nahe stehen, nicht ausbeuten, weil man in Büchern ja auch ihre dunklen Seiten zeigen muss.

Und wie entwerfen Sie Ihre Figuren?

Ein sehr alter Trick, selbst Shakespeare hat ihn schon benutzt: Man sucht sich einen Schauspieler und baut eine Rolle auf ihm auf. Den kennt man zwar nicht als Menschen, aber man sieht ihn auf der Leinwand oder im Theater, kann Manierismen, Körpersprache, Ausdrücke, alles Mögliche stehlen. Das habe ich bei „Herr der Diebe“ mit Bob Hoskins gemacht, den ich als Vorlage für Viktor genommen habe, und das habe ich bei „Tintenherz“ mit Brendan Fraser gemacht, der die Vorlage für Mo war.

Perfekt: Brendan Fraser spielt jetzt Mo in der Verfilmung von „Tintenherz“.

Ja, und niemand glaubt mir, dass er für mich wirklich erst nur eine Vorlage war. Unser erster Kontakt kam zustande, weil ich ihm das Buch geschickt habe, als Dankeschön für die Inspiration. Und jetzt wird es leider kompliziert für mich, weil ich ihn kenne. Also habe ich die Situation, die ich nie haben wollte: Dass ich einen echten Menschen im Mittelpunkt meines Buches habe.

Wie sind Sie auf Brendan Fraser gekommen?

Er spielt die Hauptrolle in meinem Lieblingsfilm, in „Gods and Monsters“. Er ist der Lieblingsschauspieler meines Sohnes. Und er hat diese Mischung aus Traurigkeit, Wärme und Jungenhaftigkeit, die ich für Mo wollte. Außerdem hat er diese wunderschöne Stimme, sehr wichtig für Mo!

Wenn Sie anfangen zu schreiben, wissen Sie dann bereits, wie die gesamte Handlung verläuft?

Nein, ich weiß nie, wie ein Buch endet. Ich will es auch nicht wissen, sonst würde ich mich langweilen. Ich sitze manchmal mit Herzklopfen beim Schreiben und kann nicht aufhören, weil ich es selbst so spannend finde. Das ist wie ein Rausch, und ich muss mich richtig bremsen.

Bremsen Sie Ihre Phantasie auch? Bestimmte Sachen sind ja Kindern nicht zumutbar.

Gewalt muss ich nicht immer ganz deutlich schildern, da bleibt vieles offen und der Vorstellung des Lesers überlassen. Und manchmal gibt es Szenen zwischen Erwachsenen, Liebesszenen, da frage ich mich oft, ob das die Kinder interessiert. Aber dann erinnere ich mich daran, wie ich als Kind gelesen habe. Bei Karl May und der Odyssee habe ich nicht gedacht: Wo sind jetzt die Kinder, mit denen ich mich identifizieren kann?

In Ihren Büchern gibt es auffällig viele böse Figuren.

Ich glaube zutiefst daran, dass es das ungebrochene Böse gibt. Ich wollte kein glamouröses Böses, kein schönes Böses, kein geläutertes Böses, ich wollte all diesen Quatsch nicht. Und dann kamen Kinder und fanden diese Bösen cool. Es ist wohl so faszinierend, weil es mächtig ist. Mein Sohn war, als er klein war, immer Sheriff von Nottingham und nie Robin Hood.

Jungs wollen eben auf der Gewinnerseite stehen.

Sie identifizieren sich mit dem, wovor sie Angst haben. Das ist das älteste Spiel der Welt. So wie die Indianer sich früher einen Schakalkopf übergestülpt haben, um sich mit dem, was sie bedrohte, zu identifizieren. Die Angst hängt immer mit Aggression zusammen, aus Angst wird Gewalt geboren.

Sie haben eine Schwäche für Kinder, die aus unvollständigen Familien kommen oder keine mehr haben.

Das ist ein rein dramaturgischer Trick. Wenn Eltern da sind und aufpassen, kann man ein Kind nicht in diese ganzen Abenteuer schicken. Waisen kann man zu größeren Helden aufbauen, wie ja auch bei Harry Potter.

Sie betreiben gerne Familienzusammenführung: Die Kinder bleiben am Ende bei netten Erwachsenen.

Das ist meine sentimentale Seite, das tue ich nicht für den Leser. Ich neige einfach zum Happy End, das ist furchtbar.

In „Tintenherz“ liebt Mo seine seit zehn Jahren verschwundene Frau immer noch sehr. Glauben Sie an eine solche Liebe?

Na ja, er hatte ja Freundinnen zwischendurch. Aber eine große Liebe läuft einem nicht allzu oft über den Weg. Wenn man Glück hat, zwei, drei Mal im Leben, nicht öfter. Und auch wenn man zwischendurch Beziehungen hatte, bleibt die Erinnerung an so etwas Großes bestehen. Da glaube ich ganz fest dran.

Mo hat allerdings auch schreckliche Schuldgefühle, denn er ist an dem Verschwinden seiner Frau beteiligt: Wenn er aus einem Buch vorliest, tut er das so intensiv, dass Figuren aus dem Buch in die Wirklichkeit springen, dafür müssen aber andere aus der Wirklichkeit verschwinden. Zum Beispiel seine Frau. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Die Worte in einem Buch aufzubewahren, ist eine wunderbare Sache. Aber man sollte nie vergessen, dass sie Klang sind. Das Schönste, was den Worten in einem Buch passieren kann, ist, dass sie laut gelesen werden. Sie kommen dann wieder raus. Ich bin ein Bücherfanatiker. Und das ist nicht nur positiv. Wir wissen doch alle, wie asozial Lesen machen kann. Wir wollen nicht, dass unsere Kinder nicht mehr nach draußen gehen, weil sie nur noch lesen. Und so wollte ich beides zeigen, die Sucht und das Wunderbare am Lesen. Ich hatte immer das Gefühl, dass das „Tintenherz“ nur für Bücherverrückte ist.

Was macht mehr Spaß beim Schreiben: Die Szenen, in denen das Böse schaltet und waltet, oder…

…ich schreibe am allerallerliebsten rührende Moment. Die schreiben sich in einem Guss, weil es um Gefühle geht. Ganz schwer sind Handlungskapitel. Befreiungsaktionen zum Beispiel muss ich einhundert Mal schreiben, bis alles stimmt und nicht klischeehaft ist.

Wollen Sie mit Ihren Büchern erreichen, dass die Leser sich über bestimmte Themen Gedanken machen?

Ich denke nicht an den Leser beim Schreiben. Aber ich glaube, jeder Schriftsteller hat seine Themen, auch wenn er sich derer nicht bewusst ist. Mich berührt unheimlich, wenn Stärke gegen Schwäche ausgenutzt wird. Ich kann Machtlust nicht verstehen. Ich kann bestimmte Rituale in der Erwachsenengesellschaft nicht verstehen. Ich bin immer auf der Seite der Schwächeren, und ich bin kein Freund von Einzelhelden, die das alles regeln, da glaube ich nicht dran. Und mein größtes Thema ist: Sehnsucht.

Interview: Gabriela Herpell

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