Angelica Domröse: Kinder der Courage
Ein Schauspielerpaar hat Geburtstag: Angelica Domröse wird 70, Hilmar Thate 80 Jahre alt. Ein ungleiches Berliner Paar und seine Liebesgeschichte.
Passen sie denn zusammen? Er wurde in einem kleinen Dorf an der Eisenbahnlinie Halle-Hettstedt groß, und eigentlich glaubt Hilmar Thate noch immer, dass der Mensch nur Mensch ist in solchen Orten wie Dölau, wo niemand sonst aussteigt. Seine Frau aber, aufgewachsen in den Berliner Kinos sowie zwischen den Trümmern des Nordbahnhofs, der immer noch heiler war als ihre Familie, sieht das anders. Angelica Domröse hält Gemeinwesen, die kleiner sind als ihre Heimatstadt, für prinzipiell unbewohnbar. Der Junge vom Land und das Berliner Mädchen, zwei April-Kinder, zwei der Großen des deutschen Kinos und Theaters.
Und in beider Leben fiel irgendwann, sehr früh, der Funke Brecht. Noch kein Jahr war Hilmar Thate am Theater Cottbus, als er 1950 die „Mutter Courage“ am Berliner Ensemble sah. Das ist es, wusste er sofort. Und mit dieser Erkenntnis schwand seine Courage, dort vorzusprechen. Auch für Angelica Domröse war das BE eine Attraktion. In kein anderes Berliner Theater kam ein Mädchen mit Hosen rein. Die ältere Frau auf der Bühne hingegen, immer diesen großen Wagen im Kreis ziehend, schien ihr allerdings etwas befremdlich. Bis sie eines Tages vor ihr stand: Aufnahmeprüfung.
Ich kann nichts, gar nichts!, warnte das Mädchen die Intendantin Helene Weigel. Vergessen war das „Ich kann alles!“, mit dem sie – es war noch nicht lange her – Slatan Dudow gezwungen hatte, sie zu besetzen: Der Erfinder des „proletarischen Films“ („Kuhle Wampe“) wollte seine erste Komödie drehen und hatte die jungen Mädchen Berlins eingeladen, sich um die Hauptrolle zu bewerben.
Sie war die 1106. Kandidatin des dritten Tags. Der Dudow-Stab einschließlich seines Vorsitzenden schlief längst, jetzt wachte er auf: Welch Lebenshunger, gepaart mit einer grundstürzenden – klugen – Ehrlichkeit. Und Entschlossenheit. Die halbe Paula war schon da. Eben eine, die alles will, kein Stück weniger. Irgendwie würde Angelica Domröse lebenslang die Panik einer 17-jährigen Stenotypistin spielen, ihr Leben könnte vorbei sein, noch bevor es richtig begonnen hatte.
Dudows Komödie hieß „Verwirrung der Liebe“, ihr nächster Film „Papas beste Freundin“, und beide Titel logen nicht. Hilmar Thate, zehn Jahre älter, spielte inzwischen in „Das Lied der Matrosen“ (Kurt Maetzig), in „Der Fall Gleiwitz“ (Gerhard Klein) oder „Professor Mamlock“ (Konrad Wolf) – auch diese Filme waren genau so, wie sie hießen, nur besser. Hilmar Thate war der ideale Jungproletarier, berstend vor Kraft und Weltveränderungswillen, einschließlich der revolutionären Energie, vor Helene Weigel zu bestehen. Er hatte es bereits geschafft, als „Papas beste Freundin“ aufbrach, die Bretter zu erobern, die Brecht und die Welt bedeuteten.
„Na Kleene, jehste wieda üben?“, fragte das allgemein anerkannte proletarische Übersubjekt der jüngeren BE-Generation die Neue im Hof des Theaters, sein Auto putzend. „Den Ton verkneifen wir uns aba, wa?“, kam es zurück. Und dabei blieb es vorerst.
Sie aber kultivierte genau diesen Ton, verfeinerte ihn, ließ durch ihn alles Glück und alle Tragik des Lebens scheinen. So wurde sie Paula in Heiner Carows „Legende von Paul und Paula“ (1973). Carow hatte versucht, sich zu wehren; er wollte ein ganz junges Mädchen, eins von der Straße, keine Schauspielerin – er suchte eine wie die Domröse, als sie mit 17 Jahren vor Slatan Dudow stand. Aber sie, inzwischen fast doppelt so alt und Schauspielerin bis in die kleinste Haarwurzel hinein, erklärte: Ich bin Paula! Punkt. Aus.
Und sie wurde es so sehr, dass man fast nicht mehr versteht, was den Regisseur damals so zweifeln ließ. „Helli, die ist für uns zu schön“, hatte ein BE-Regieassistent bereits die Weigel gewarnt. „Ach was, das kriegen wir auch noch weg!“, hatte diese geantwortet. Hier irrte die Intendantin.
Ob „Fleur Lafontaine“ oder „Effi Briest“ – wer konnte von so durchscheinender Eleganz, von so zerbrechlicher Zartheit sein? Angelica Domröse bewies: Der wahre Adel kommt von der Straße; er ist keine Frage der Geburt, sondern des Talents. Und dann, 1975, dieser Landwirtschaftsfilm: Kluger, fortschrittlicher Parteisekretär (Hilmar Thate) hat Ärger mit bösem, reaktionären Bauern, der seine größten Kartoffeln für sich behalten und nicht in die LPG will (Manfred Krug, wer sonst). Und sie spielt die todkranke polnische Ehefrau des Parteisekretärs. Wie viel Liebesende, im Film! Wie viel Liebesanfang, im Leben!
Nun geschah alles zugleich. Im Frühjahr 1976 läuft der Mehrteiler „Daniel Druskat“ im Fernsehen. Im Oktober bekommen Thate, Domröse und Krug die zweithöchste Auszeichnung, die die DDR zu vergeben hat: den Nationalpreis 2. Klasse für den Parteisekretär, die Frau des Parteisekretärs und den Ego-Bauern. Einen Monat später unterschrieben die drei Höchstprämierten eine Erklärung, in der das bislang in der DDR ungehörte Wort „Protest“ vorkam. Und dann brüllte der Chef des DDR-Fernsehens durch Domröses und Thates Telefon: „Was bildet ihr euch eigentlich ein?“
Man weiß, wie die Sache Biermann ausging. Auch Angelica Domröse und Hilmar Thate verließen die DDR. Es war – zuletzt – eine Frage der Selbstachtung. Wir haben euch gemacht!, rief die Partei ihnen entgegen. Die beiden wussten es besser, machten fortan Theater zwischen Wien und West-Berlin, an den Staatlichen Schauspielbühnen, wo keine Partei auf die Idee kam, sie schaffe einen Künstler. Sie spielten unter George Tabori Stalin (Angelica Domröse) und seinen Knecht (Hilmar Thate). Auch einige ihrer schönsten, wichtigsten Filme drehten beide erst jetzt. Er: „Engel aus Eisen“ mit Thomas Brasch und „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ mit Rainer Werner Fassbinder. Sie: „Die zweite Haut“ mit Frank Beyer und „Hanna von acht bis acht“ mit Egon Günther.
Zur Ironie des Lebens gehört, dass es manche Fragen zwei Mal stellt. Domröse und Thate, die Kinder Helene Weigels und des Berliner Ensembles, haben nie gelernt, in Filmen und Stücken zu spielen, an die sie nicht glauben. Und das sind die meisten. Es ist eine Frage der Selbstachtung. Angelica Domröse wird am heutigen Montag 70 Jahre alt. Hilmar Thate feiert am 17. April seinen 80. Geburtstag.
Angelica Domröse veröffentlichte 2003 ihre in Zusammenarbeit mit Kerstin Decker entstandene Autobiografie „Ich fang mich selbst ein. Mein Leben“(Bastei Lübbe).
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