"Unendlicher Spaß" in den Sophiensälen: Kein bisschen Maß darf sein
Konzentration auf zentrale Motive: Thorsten Lensing lässt ein Romanmonstrum von David Foster Wallace in den Sophiensälen funkeln.
Vier Stunden dauert der Spaß. Nicht gerade unendlich lang. Und deutlich kürzer als die letzte Theaterversion des David-Foster-Wallace-Romans „Unendlicher Spaß“, die in Berlin zur Premiere kam. Das war der 24-Stunden-Parcours, den sich Matthias Lilienthal als HAU-Chef zum Abschied geschenkt hat, unter Aufbietung so ziemlich aller Performance-Kräfte Berlins. Man muss daran erinnern, weil das 1500-Seiten Werk „Infinite Jest“ eben schnell zur Megalomanie verführt.
Entsprechend angenehm wirkt es, dass Regisseur Thorsten Lensing sich in den Sophiensälen sehr um Konzentration auf zentrale Motive bemüht. Foster Wallace, das manisch-depressives Wunderkind der amerikanischen Literatur, hat mit „Unendlicher Spaß“ ja einen überschießenden, metastasierenden Mix aus dystopischem Gesellschaftspanorama, trashiger Familiensaga und apokalyptischer Entertainmentsatire geschaffen. In vielem genial, über Strecken allerdings auch ein strapaziöses Angeberbuch, das mit Sprachpotenz plätten will.
„Unendlicher Spaß“ spielt in einer nahen Zukunft, in der Konzerne sogar den Kalender gekauft haben, weswegen man sich durch das „Jahr der Inkontinenzunterwäsche“ oder das „Jahr der mäuschenstillen Maytag-Spülmaschine“ bewegt. Das amerikanisch-kanadische Grenzgebiet ist eine gigantische Müllkippe, eine frankokanadische Separatistengruppe im Rollstuhl mit Namen „Assassins des Fauteuils Roulants“ treibt ihr Unwesen.
Deformation von Biografien
Dieses futuristisch-sarkastische Setting interessiert den Regisseur nur am Rande. Zwar ist eine nicht näher spezifizierte Grenze in Metallwandform auf der ansonsten weitgehend kargen Bühne von Gordian Blumenthal und Ramun Capaul errichtet. Aber es geht in Lensings Fassung (an der Thierry Mousset und Dirk Pilz mitgewirkt haben) weniger um den großen (kultur)politischen Overkill, als um die Deformationen der Biografien in dieser postmodernen Wüstenei.
Im Zentrum stehen die Brüder Incandenza. Deren Vater James O. Incandenza, ein sagenumwobener Filmemacher, hat mit dem Kopf in der Mikrowelle Suizid begangen. Was ja schon eine gewisse Lebenshypothek für die Nachkommen mit sich bringt. Hal, ein Lexikonwunder mit ausgeprägten Daseinszweifeln, bemüht sich anfangs um die Aufnahme an der Enfield-Tennisakademie, die Daddy James O. gegründet hat. Dort hält sich auch sein schwer behinderter Bruder Mario auf, der sich schlagende Ähnlichkeiten mit einem Reptil bescheinigt und begeisterter Radiohörer ist. Der älteste Bruder, Orin, hat hingegen als Punter beim American Football Team der Arizona Cardinals noch die wenigsten körperlichen Beschwernisse. Für geistige Gesundheit bürgt das freilich nicht. Lensing, in den Sophiensälen zuletzt mit seiner Dostojewksi-Adaption „Karamasow“ zu Gast, schneidert sich bekanntlich für jede Produktion ein Haute-Couture-Ensemble zusammen, mit Akzent auf erprobten Kräften. Einmal mehr sind Ursina Lardi, Devid Striesow, Sebastian Blomberg, André Jung und auch Heiko Pinkowski versammelt. Neu dazu stößt die Castorf-Granate Jasna Fritzi Bauer. Letztere hat unter anderem einen fulminanten Auftritt als Cracksüchtige, die von ihrer Totgeburt im forcierten Drogentaumel berichtet. Wie sie sich „mit Volldampf durch die Wehen gekokst“ hat. Und schließlich alles im Desaster endete.
Fritzi Bauer spielt diese Horrorpassage mit einer lässigen Mischung aus knallharter Einfühlung und distanziertem Schulterzucken. Ähnlich gut ist sie in einer weiteren Rolle als Joelle van Dyne, einer mysteriösen Radiomoderatorin, die Mitglied in der „Liga der rüde Verunstalteten und Entstellten“ ist und ausschließlich verschleiert auftritt. Eine typische Foster-Wallace-Figur eben.
Herzinfarkt mitten im Flug
Fast alle haben sie hier mehrere Parts. Lardi, erstarrt in pubertärer Soziallähmung, spielt unter anderem Hal Incandenza, dieses Wunderkind in Tenniskluft, das Angst hat, in der Traumatherapie zu versagen. Striesow gibt den Womanizer Orin, aber auch – sehr komisch – Randy Lenz, einen koksenden Phobiker mit Zeitfimmel. André Jung tritt als schief ins Leben gebauter Mario auf, hat aber vor allem eine grandiose Nummer als verquerer Schweizer in der Selbsthilfegruppe. Blomberg, überhaupt eine Wucht, legt seinen besten Auftritt als Vogel hin, der mitten im Flug einen Herzinfarkt erleidet. Und der tolle Heiko Pinkowski spielt (ausschließlich) Don Gately. Ein Hüne mit Schmerzmittelsucht und anderen Problemen ist das, der mit dem 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker hadert. Die Nummer mit der Unterwerfung unter Gottes Willen funktioniert für ihn einfach nicht.
Diesen Kampf mit den Abhängigkeiten und Beschädigungen, dieses Ringen um Sinn und Erlösung exerziert Thorsten Lensing in vier fast rundweg fesselnden Stunden. Mit einem phantastischen Ensemble, dessen teils grell divergente Spielstile sich zu einem Ganzen fügen. Und nicht zuletzt mit Gespür für die existenziell verzweifelte Komik der Vorlage. Ein dunkler Spaß.
Wieder 24./25.2., 2./3./4. 3., 19 Uhr
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