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© Illustration: Blutch/Reprodukt

Autorencomics: Kaubeus kennen sich aus

Mit gleich zwei auf Deutsch übertragenen Bänden kann man den französischen Comic-Autoren Blutch jetzt auch bei uns kennenlernen - und in eine höchst wunderbare Welt einsteigen

Gleich zwei Titel des französischen Comic-Autoren Blutch sind dieser Tage auf Deutsch erschienen: "Der kleine Christian" im Reprodukt-Verlag, der damit zwei in Frankreich 1998 und 2008 erschienene Bücher in einer Gesamtausgabe vorlegt. Dazu wartet der avant-Verlag mit "Blotch - Der König von Paris" auf.

Der soeben mit dem Grand Prix de la Ville d'Angoulême, dem wichtigsten europäischen Comicpreis ausgezeichnete Blutch, mit bürgerlichem Namen Christian Hincker, ist in Deutschland bisher noch kaum wahrgenommen worden. Die beiden Publikationen, die das nun ändern könnten, haben auch über das zufällige Zusammenfallen der deutschen Erscheinungstermine hinaus einige Gemeinsamkeiten, darunter die episodenhafte Erzählstruktur, die Selbstreferenzialität des Mediums Comic, oder, wie die Titel bereits nahelegen, das Spiel mit der Autorenpersönlichkeit.

Die Coming-of-Age-Geschichten im bei Reprodukt erschienenen Band "Der kleine Christian" sind mit liebevoller Ironie erzählt und durchaus von Blutchs eigener Kindheit und Jugend im Elsass der Siebziger und Achtziger geprägt. Die beiden Teile, die der Grundschulzeit bzw. dem anschließenden Collège gewidmet sind, thematisieren ausgiebig den großen Einfluss der Popkultur.

Lucky Luke, John Wayne oder Steve McQueen spielen eine nicht unerhebliche Rolle in der Identitätsfindung des jungen Christian - selbst begabter Cowboyzeichner - und sind das generationsspezifische Merkmal der Geschichten.

Gnadenlose Beobachtungen, feine Poesie

Die zugrunde liegenden Probleme mit den Eltern, dem anderen Geschlecht oder dem sozialen Status auf dem Schulhof freilich sind universeller Natur und unmittelbar nachvollziehbar: Blutchs großartig uneitle Erzählweise dürfte bei einer Reihe von Lesern unbequeme Erinnerungen an die Zeit im Leben hervorrufen, in der es vor allem anderen darum geht, nicht als der größte Idiot von allen dazustehen. Die Schmach, der Einzige auf dem Schulhof zu sein, der den Film vom Vorabend nicht sehen durfte, und wie man im Pausengespräch darüber hinwegtäuscht, oder den hysterischen Humor, den das Wort "Pimmel" auslösen kann, hat Blutch in der Welt der (etwa) Neunjährigen gnadenlos scharf beobachtet. Dazu gesellt sich eine feine und bisweilen rührende Poesie - wenn John Wayne mit unerschütterlicher Miene behauptet, er dürfe Filme ab 18 sehen, wenn Christian räsoniert, warum Deutscher zu sein fast so ätzend ist wie Indianer zu sein, und er sich später durch einen Sandsturm der Versuchungen kämpfen muss, um den Gefühlen für die Sommerliebe treu zu bleiben.

Bei all dem gibt es ein paar verlässliche Werte: Dr. Justice beispielsweise ist cool, aber Steinzeitmensch Rahan ist besser. Die Comic-Helden begleiten Christian durch die Zeit der klaren Grundsätze ("In meiner Kaubeubande kennen wir uns aus mit Mädchen. - Alle Mädchen stinken!") ebenso wie durch die beginnende Pubertät, die ihm neue Höhen und Tiefen beschert. Die erste Verliebtheit wird mit gebührendem Pathos begangen, die Hoffnung wie die Verzweiflung und die gefühlte Entfremdung von der allzu banalen Welt. Die Erwachsenen haben derweil nichts Besseres zu tun als Christians Einsamkeit in der Wüste des Lebens unsensibel mit Überflüssigkeiten wie dem Mittagessen zu stören. "Ich habe gelitten. Ihr nicht" ist ein Kapitel überschrieben. Die bewunderte Catie erfährt selbstverständlich nie von diesen großen Gefühlen.

Blutchs Zeichnungen sind voller Energie und wirken besonders im zweifarbigen zweiten Teil lässig dahinskizziert, was immer wieder von der gelegentlichen Detailverliebtheit konterkariert wird. Dabei gelingt es ihm geradezu schlafwandlerisch, den Pubertätsslalom zwischen der Coolness alter Westernhelden ("Hier ruht die Unschuld - Sie starb in ihren Stiefeln") und jämmerlicher Hilflosigkeit erzählerisch nachzuvollziehen. Wie Christian Marlon Brando, der als Berater in Liebesdingen vorbeikommt, ein tränenersticktes "SIE SIND GEMEIN!" entgegenschleudert - kaum möglich, sich dem Charme dieser Authentizität zu entziehen.

Rassistisch, eitel, ein Opportunist erster Güte

Demgegenüber ist "Blotch - Der König von Paris" ein Titelheld der ganz anderen Art. Bereits auf der zweiten Seite ist der korpulente Comiczeichner aus dem Paris der dreißiger Jahre unwiderruflich als kaum erträglicher Unsympath etabliert: ein schwitzend-lüsterner Blick auf die zehnjährige Hausmeistertochter - und erledigt. Die Frau an seiner Seite spricht er praktisch nur an, um ihr den Mund zu verbieten; dazu ist er rassistisch, eitel und ein Opportunist erster Güte. Dass er trotzdem einer der lustigsten Comic-Charaktere der letzten Jahre ist, liegt - ähnlich wie in "Der kleine Christian" - in Blutchs Talent für die ungehemmte Innenansicht begründet. Dadurch wird die gewählte Perspektive, die Einblicke in das Seelenleben eines überzeugten Reaktionärs erlaubt, zu einem Riesenspaß und einer unschätzbaren Stärke des Bandes.

Das Verhältnis zur Realität dieser Alter-Ego-Konstruktion gestaltet sich hier etwas komplexer. So spielt die fiktive humoristische Zeitschrift "Fluide Glacial" aus den Dreißigern, die den Rahmen für die Blotch-Episoden bildet, nicht eben subtil auf die reale humoristische Zeitschrift "Fluide Glacial" an, in der die Episoden Ende der neunziger Jahre erschienen sind.

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Unsympath. "Blotch" gibt höchst unterhaltsame Einblicke in das Seelenleben eines überzeugten Reaktionärs.
© Illustration: Blutch/Avant

Auch die Autorenbelegschaft im Comic verdankt ihre Namen, mit kleinen Abwandlungen, den realen Kollegen: Larcenet wird zu Larssinet, Goossens zu Goussein. Die Regierungszeit der aus verschiedenen linken Bündnissen gebildeten Front Populaire unter Führung von Léon Blum, die 1936 begleitet von einer massiven Streikwelle an die Macht kam, bildet den historischen Hintergrund. Vor diesem positioniert sich Blotch komfortabel im rechten Lager und in steter Konkurrenz zum Zeichner des (wiederum fiktiven) linken Satireblattes "Le Rire Populaire", dessen Erfolg für ihn nicht einmal zähneknirschend zu ertragen ist.

Tim und Struppi? Ein Triumph des Mittelmaßes

Überhaupt steht Blotch mit Kritik und Konkurrenz auf Kriegsfuß - allein deren Existenz kommt einer Beleidigung dieses Meisters der Selbstbeweihräucherung gleich. Wenn Blotch zu Beginn jeder Episode mit Schwung an seiner Signatur feilt und über die Bedeutung seines Genies für die Welt sinniert, weiß man, was die Stunde geschlagen hat: "Blotch. Blotch, dieser Name in brennenden Lettern im Himmel von Paris..." Bescheidenheit ist seine Sache nicht, denn die, weiß Blotch, "ist für jene, deren Talent bescheiden ist." In vollendeter Überheblichkeit macht er sich über junge Kollegen lustig oder intrigiert hemmungslos, um potenzielle Konkurrenten auszubooten. Hergé - unter anderen Kollegen, deren Werke Blutch in seine eigenen elaborierten und virtuosen Zeichnungen einbaut - hat einen wunderbaren Gastauftritt als schüchterner junger Zeichner, dessen Konzept von der Zeitschrift abgelehnt wird; Blotch und seine Kollegen sparen weder mit falschem Mitgefühl noch mit Häme. Dass "Tim und Struppi" allerdings schließlich zum Publikumserfolg wird, ist in Blotchs Augen ein so unbegreiflicher wie unverzeihlicher Triumph des Mittelmaßes.

Zugleich dient sich der selbsternannte Verteidiger der Grande Nation gegen den Pöbel und den Kubismus unterwürfigst jeder Autorität an, die ihm über den Weg läuft. Dabei stehen ihm seine ebenso opportunistischen Kollegen in nichts nach. "Nun ja, mein Lieber", "Also, mein Lieber", "Ach ja, mein Lieber" - die Floskeln schwirren nur so durch die Redaktion. Zu ärgerlich, dass die umschmeichelten Respektspersonen Blotchs Wert scheinbar nicht adäquat zu schätzen wissen: so die - auf den realen Gründer von "Fluide Glacial" Marcel Gotlib anspielende - Figur des Übervaters der Zeitschrift, Monsieur Marcel.

Doch Blotch weiß: "Kommende Generationen sprechen von 'dem Blotch', wie unsere Vorväter von der Meisterhaftigkeit, der Aufrichtigkeit, der Tatkraft, dem Schwung, der Kühnheit sprachen... letztlich vom wahren Geist Frankreichs." Die prominenten Stimmen im Anhang - darunter Mitterand, Picasso oder André Gide - sind freilich voll des Lobes und runden den großartigen Band ab.

Die beiden Titel geben nur einen kleinen Einblick in das breite Repertoire des renommierten Autors, der kürzlich "Artist in Residence" beim Comic Festival in Fumetto war und überdies für "Blotch - Der König von Paris" in Angoulème den „Alp Art“ für das beste humoristische Album eingeheimst hat. Beide aber sind höchst lohnend, um in die wunderbare Welt von Blutch einzusteigen, der als einer der wichtigsten französischen Comickünstler gehandelt wird. Dass sie nun auf Deutsch vorliegen, könnte ein Anfang auf dem Weg sein, an dessen Ende Blutch... Blutch, dieser Name in brennenden Lettern im Himmel von Berlin...

Blutch: Der kleine Christian, übersetzt von Kai Wilksen, Reprodukt, 116 Seiten, 18 Euro. Mehr dazu inkl. Leseproben hier
Blutch: Blotch - Der König von Paris, übersetzt von Kai Wilksen, Avant, 103 Seiten, 17,95 Euro. Mehr dazu inkl. Lesproben hier.

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