Schaubühne: Katie Mitchell seziert Strindbergs "Fräulein Julie"
Messer im Auge: Frei nach August Strindberg skizzieren Katie Mitchell und Leo Warner an der Schaubühne das tödliche Drama einer Mesalliance.
Ein Hörspiel, das zu einem Film wird, der auf einer Theaterbühne spielt, vollkommen transparent. Schauspieler, Techniker, Kameraleute, Geräuschmacher arbeiten auf zauberische Weise Hand in Hand, und man sieht ihnen dabei zu. Wie sie Regen machen, von der Totale in die Großaufnahme wechseln, den Innenraum eines Landhauses nach außen kehren. Frei nach August Strindberg – und doch sehr nah an seiner Vision eines intimen Theaters – skizzieren Katie Mitchell und Leo Warner an der Schaubühne das tödliche Drama einer Mesalliance. Es ist die erste Inszenierung der Engländerin in Berlin. 2009 war Katie Mitchell mit dem „Wunschkonzert“ nach Franz Xaver Kroetz zum Theatertreffen eingeladen.
Das „naturalistische Trauerspiel“ um das vornehme Fräulein, das sich in der Mittsommernacht mit dem Diener Jean einlässt – wer hier wen verführt, bleibt die ewige offene Frage –, entstand 1888. Strindberg galt lange Zeit als manischer Frauenhasser, aber das war nur eine schlechte Verkleidung. Privat suchte er starke Frauen, was nicht ohne Konflikt bleibt, nicht nur zu der damaligen Zeit. In seinen Stücken liegen die Geschlechterrollen offen. Ebenso die Dramaturgie. Er war ein Erneuerer und Emanzipator des Theaters, suchte nach freier Form, zumal in seinem berühmten „Traumspiel“.
Wer heute mit Video auf der Bühne arbeitet, und wer das so virtuos tut wie Katie Mitchell, darf sich ohne Weiteres auf Strindberg berufen. Ein „modernes psychologisches Drama“ schwebte ihm vor, wie man in seinem Vorwort zu „Fräulein Julie“ nachlesen kann, jedes Ausstattungsdetail war ihm wichtig. Licht, Mimik, Perspektive – über all das hat er bis ins Kleinste nachgedacht. Bei anderen Dramatikern nervt solche Detailversessenheit, bei Strindberg hat die Reflexion nichts Fantasietötendes, sondern wirkt befreiend und inspirierend.
Auch Katie Mitchells entscheidender Eingriff in das Stück geschieht, wenn man so will, im Geiste Strindbergs. Sie betrachtet die Tragödie mit den Augen der Köchin Kristin. Diese Produktion der Schaubühne ist eine Feier der hochtechnisierten, jedoch humanen Bühnensprache. Sie ist vor allem der stille Triumph der Jule Böwe. In ihrer Gestalt, in ihren Zügen bildet sich der Schmerz darüber ab, dass Jean – er ist mehr oder weniger mit Kristin verlobt – sein Spielchen mit der jungen Hausherrin treibt. Oder sich treiben lässt. Jean will hoch hinaus, er träumt von Geld und Ansehen und Sozialprestige, Julie will sich fallen lassen. Sie langweilt sich, will es mal ausprobieren. Sie taumeln aufeinander zu und verfehlen sich. Sex hebt den Klassenunterschied auf – nachher ist das Gefälle umso größer. Der Irrtum provoziert Grausamkeit.
Kristin muss das mit ansehen. Sie lauscht an der Tür, auf den Dielen, und sie weiß, dass es nicht gut gehen wird. Lebensklugheit steht ihr ins Gesicht geschrieben, dafür bezahlt sie. Sie muss es erdulden. Wenn dieses Haus (Bühne und Kostüme: Alex Eales) mit seinen verschiebbaren Wänden einen Boden hat, dann steht Kristin darauf. Die Julie der Laura Tratnik und der Jean des Tilman Strauß irrlichtern durch die luftige Architektur. Möglicherweise – und das täte der unbarmherzigen Versuchsanordnung keinen Abbruch – geschieht das alles allein in Kristins Fantasie, die von Eifersucht gehetzt wird, aber auch von der Neugier, zu was ihr Jean fähig ist. In Jule Böwes Augen ist eine Härte, die man auch so verstehen kann: Dass der Mann tun soll, was er nicht lassen kann. Dass das noble Fräulein nichts anderes verdient. Dass Kristin die Stärkere ist.
Kristin trocknet Blumen, Jean tötet einen Vogel. Poetische Close-ups, nah am Kitsch gebaut. Aber Strindberg hat auch nicht mit dicker Symbolik gegeizt. Auf der Bühne, im Halbdunkel, streicht eine Cellistin (Musik: Paul Clark) melodramatische Motive. Wie sie es draußen treiben, wie Julie das Messer ansetzt, man sieht das nicht. Man spürt es. Katie Mitchell und ihr Team halten die Nacht und den Morgen danach in der Schwebe. Die Handlung wird in die Köpfe verlegt; das ist in der Quintessenz, auch wenn der Text aufs Nötigste reduziert wird, sehr, sehr strindbergisch. Ein Albtraumspiel.
Ein Theaterstück, das sich filmisch aufblättert und in einem Tonstudio angesiedelt ist, filigran choreografiert. Julie bringt sich um, wie die einsame Protagonistin im „Wunschkonzert“. Vielleicht gibt es ja so etwas wie eine weibliche Theaterästhetik, diesen Leidensgenuss. Diesen unaufhaltsamen Drang ins Dunkle.
Wieder am heutigen Montag sowie am 30. 9. und 1., 2., 3., 5. und 6. 10.
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