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Der Leser bringt die Musik der Bücher zum Klingen. Margaret Atwood in Frankfurt.
© AFP

Friedenspreis an Margaret Atwood: Kaninchen aller Länder, vereinigt euch!

In ihrer Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels öffnet Margaret Atwood ihr persönliches Bestiarium.

Zwischen dem Geschichten erzählenden Tier, das der Mensch ist, und den Tiergeschichten, die er sich erzählt, herrscht eine problematische Beziehung. Unter die bloßen Kuriositäten fällt die Tatsache, dass er das literarische Berichten und Erfinden aus evolutionärer Notwendigkeit betreibt, während er sich in seinen Fabeln und Märchen als freiheitliches Wesen entwirft: In den Tierrollen, die ihm von Äsop über die Brüder Grimm bis zu James Thurber zugewiesen wurden, erkennt er sich als jemand, der jederzeit über diese Rollen hinauswachsen kann. Zu den irritierenderen Aspekten gehört, dass er eine Lehre aus Geschöpfen zu ziehen versucht, die anders als er gar keine Wahl haben.

Die Geschichte, die Margaret Atwood am Sonntagmorgen in ihrer Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels als Gleichnis „für unsere Gegenwart und ihre Beschwernisse“ in der Frankfurter Paulskirche erzählte, handelte vom Wolf und den Kaninchen. „Da kommt er also des Weges, ein Wolf im Schafspelz oder gar ein Wolf im Wolfspelz“, sagte sie, „und dieser Wolf wird sagen: Kaninchen, ihr braucht einen starken Anführer, und ich bin genau der Richtige für den Job. Ich werde wie von Zauberhand die perfekte Welt der Zukunft erscheinen lassen, und Eiscreme wird auf Bäumen wachsen. Aber zunächst einmal müssen wir die Zivilgesellschaft abschaffen – sie ist zu weich, sie ist degeneriert –, und wir werden die akzeptierten Verhaltensnormen aufgeben müssen, dank derer wir durch die Straßen gehen können, ohne uns andauernd gegenseitig ein Messer in den Rücken zu jagen. Und dann werden wir diese Leute abschaffen müssen. Erst dann wird die perfekte Gesellschaft erscheinen!“

Vorbereitet von der Frage, was es denn sei, das gerade weltweit den Boden unter den Füßen wanken lässt, sieht man einen Herrn am Bosporus und seine Gefolgschaft vor sich oder jenen Wüterich im Land der Freien und der Tapferen, dessen Erscheinen der demokratischen Welt die größten Selbstzweifel aufgibt, und kommt über die Typisierung doch ins Grübeln. Denn der Wolf kann sich so wenig in ein Kaninchen verwandeln wie das Kaninchen in einen Wolf. Wenn neben der Aufforderung, sich nicht verführen zu lassen, auch ein Stück Fatalismus in dieser Metaphorik steckt, ist sie dann nicht sogar gefährlich?

Taugen Dinosaurier als Metapher?

Margaret Atwood selbst spürte ein Unbehagen, als sie sich zu versichern beeilte, sie habe eigentlich nichts gegen Wölfe. Es seien im Grunde ihrer Seele gute Tiere, wenigstens zueinander. Doch indem sie gestand, dass sie vielleicht besser Dinosaurier als Metapherntiere hätte nehmen sollen, machte sie die Sache nur noch schlimmer. Dinosaurier sind, wenn man sie nicht gerade im Jurassic Park aufsucht, auf ihre sich selbst unbewusste Weise um keinen Pesthauch heimtückischer als Schlangen oder Raubvögel. Zu allem Überfluss sind sie überwiegend vorbildliche Vegetarier. Selbst im offenen Eingeständnis ihrer anthropomorphen Projektionen hatte Atwood sich da schon in ihr persönliches Bestiarium verstrickt.

Im ersten Teil ihrer Rede, der ihren Anfängen als Schriftstellerin galt, erinnerte sie sich an das Scheitern ihres zweiten Romans mit sieben Jahren. Die Abenteuer einer Ameise auf einem Floß wollten keine Richtung annehmen. Die heute 70 Jahre ältere Atwood müssen sie aber so beschäftigt haben, dass sie der Familie der Hautflügler bescheinigte, dass diese zu Heuchelei nicht imstande sei: „Die Ameisen zumindest wissen, in welcher Welt sie leben wollen, und sie machen kein Hehl daraus.“ Es ist, natürlich, eine Welt ohne Menschen. Das sollten, so die kanadische Schriftstellerin, auch die Zweibeiner wissen, die 60 Prozent ihres Sauerstoffs aus den zusehends verseuchten Meeren und deren Algen beziehen.

Atwoods Erzählungen und Romane, in deren dystopisch-sarkastische Hellsichtigkeit zuvor die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse eingeführt hatte, leben bei allem liberalen Ethos von ihrer Vieldeutigkeit – darunter auch das bekannteste Werk „Der Report der Magd“. 1984 mit Blick auf den Eisernen Vorhang in West-Berlin begonnen, wie Atwood erklärte, hat es an düsterer Kraft nicht verloren. Als Wort zur historischen Stunde wirkte Atwoods Rede dagegen ziemlich unkonzentriert. „Wozu überhaupt Kunst schaffen, in so verstörenden Zeiten? Was ist das überhaupt, Kunst?“, fragte sie. Sie kam nicht viel weiter als bis zu der Erkenntnis: „Es gibt keine allgemeingültige Antwort.“ Immerhin: „Der Leser ist der Musiker des Buches.“ Vielleicht entdeckt der eine oder andere auch in dieser mäandernden Rede noch die Kantilene oder den Paukenschlag.

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