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Fragiles Glück. Szene aus „Sorry Angel“ von Christophe Honoré.
© Festival

Cannes-Tagebuch (3): Kampf gegen Windmühlen

Cannes darf seinen Abschlussfilm tatsächlich zeigen - und das osteuropäische Kino hat einen starken Lauf beim Filmfestival.

Wenn man Thierry Frémaux reden hört (Stichworte Selfie-Verbot und Netflix-Bann), drängt sich manchmal der Eindruck auf, dass sich der Cannes-Chef in Sphären bewegt, die für normalsterbliche Kinofans unerreichbar sind. Trotzdem war Frémaux vermutlich erleichtert, als eine weltliche Instanz, ein französisches Gericht, ihm am Mittwoch bestätigte, dass das Festival am 19. Mai mit Terry Gilliams Herzensprojekt „The Man Who Killed Don Quixote“ schließen darf. Auf dem Film liegt ein Fluch, der zu den großen Mythen des Kinos gehört: Gilliams ganz persönlicher Windmühlenkampf. Bereits 1998 wollte der ehemalige „Monthy Python“-Star die Cervantes-Geschichte verfilmen, mit Jean Rochefort und Johnny Depp.

Dass Frémaux die vermaledeite Produktion nun mit Jonathan Pryce und Adam Driver, als krönenden Abschluss an die Croisette holen konnte, gilt als Coup – ungeachtet der Tatsache, dass Koproduzent Paulo Branco sich in einem Rechtsstreit mit Gilliam befindet. Brancos Kommentar, dass Cannes nicht über dem Recht stehe, ist wohl auch als Giftpfeil in Richtung Frémaux zu verstehen, der unliebsame Debatten schon mal nach Gutsherrenart im Keim zu erstickt.

Das Gericht hat lediglich festgestellt, dass Frémaux den Film zeigen darf; der Rechtsstreit zwischen Gilliam und Branco geht indes weiter. Im Anbetracht der 20-jährigen Vorgeschichte darf man sich in Cannes also auf ein historisches Ereignis freuen – mit dem Segen der Justiz. Und Frémaux muss sich nicht zwei Tage nach der Eröffnung noch um einen neuen Abschlussfilm kümmern.

Die erste französische Premiere im Wettbewerb ging da fast ein wenig unter; wohl auch, weil alle auf den neuen Godard an diesem Freitag warten. Dabei hat sich der Verleih von Christophe Honorés „Plaire, aimer et courir vite (Sorry Angel)“ ganz schön ins Zeug gelegt: Die ersten US-Kritiken erschienen bereits einen Tag vor der Gala-Premiere, ein Affront gegenüber Frémaux mit seiner verschärften Pressepolitik. Honoré gehört im französischen Autorenkino zu den unbesungenen Lieblingen der Kritik. Warum, wird in „Sorry Angel“ sehr schnell klar.

Die schwule Liebesgeschichte im Paris der frühen Neunziger zwischen einem Jungen vom Land und einen HIV-positiven Schriftsteller entwickelt einen unaufgeregten, elliptischen Erzählfluss und hält doch etliche ergreifende Momente bereit. Honoré bereichert das „Queer Cinema“ um eine persönliche Stimme, ohne das Rad neu zu erfinden. Der 2017 in Cannes gezeigte „120 Beats per Minute“ von Robin Campillo erzählte eine ähnliche Geschichte auf dem Höhepunkt der AntiAids-Bewegung „Act up“. Wo Campillo auf die Straße drängt, hält sich „Sorry Angel“ in unterkühlten Yuppie-Apartments auf, mitunter etwas zu lange.

Mehr Aufmerksamkeit wird in Cannes der Premiere des polnischen Regisseurs Pawel Pawlikowski zuteil, der mit „Ida“ (2013) einen Oscar und den Europäischen Filmpreis gewann. „Cold War“ knüpft formal nahtlos an den Vorgänger an und erzählt zu treibenden Jazzrhythmen von der turbulenten Liebe zwischen der Sängerin Zula und dem Komponisten Wiktor zwischen 1949 und 1964 – mit einer wunderbar präzisen Ökonomie, in der jeder Schnitt sitzt (der Film dauert 84 Minuten). Der Film basiert lose auf der Ehe von Pawlikowskis Eltern, doch das biografische Element überstrahlt die Geschichte nie. Ähnlich wie Kirill Serebrennikows „Leto“ beschreibt der Film das Ringen mit dem eigenen Gewissen in einem totalitären System, bei dem die ungebrochene Lust am Leben, aber auch die Musik als existenzieller Halt fungieren. In „Cold War“ bekommt dieser Antrieb zunehmend selbstzerstörerische Züge, die in scharfem Kontrast zu den klassizistischen Schwarz-Weiß-Bildern im schmalen Academyformat stehen. Das osteuropäische Kino hat in Cannes einen guten Lauf.

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