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jÜRGEN gOSCH
© dpa

Nachruf: Jürgen Gosch: Ein Engel geht durch den Raum

Die Sprache der Liebe und das nackte Chaos des Lebens: Zum Tod des großen Theaterregisseurs Jürgen Gosch.

Es gibt Theaterabende, da weiß man, warum Theater existiert. Warum es in die Welt gekommen ist und warum es fremd bleiben muss in ihr, wenn es zu seiner natürlichen Größe findet. Das Fremde, das ist das Verdrängte, das Erschrecken darüber der kathartische Moment. In den griechischen Tragödien liegt diese Tiefenschicht noch obenauf, später bekommt sie immer dickeren Firnis, verpuppt und verkleidet sich. So könnte man die ganze Geschichte der abendländischen Dramatik in einem Punkt zusammenfassen: Kostüme und Bühnenbild, Beleuchtung und Technik, Schauspielerei und, als jüngste all dieser Erfindungen, die Regiekunst haben dem Theater über Jahrhunderte Reichtum und Formenfülle und Formate gegeben – und es zugleich arm gemacht. Erdrückt mit Kunst und Kunstfertigkeit und Originalitätswahn.

Jürgen Gosch arbeitete sein Leben lang in die andere Richtung. Er wollte zum Ursprung zurück. Oft ließ er seine Schauspieler, wie im Düsseldorfer „Macbeth“, nackt und blutig auftreten. Man glaubte, eine Geburt mitzuerleben. Eine Wiedergeburt der Tragödie. Als er 1984 in Köln den „Oedipus“ des Sophokles inszenierte, steckten die Schauspieler in überlebensgroßen Masken. Axel Manthey hatte diese Totem-Figuren entworfen, und Ulrich Wildgruber spielte das einst in der Wildnis ausgesetzte große Königskind, an dem sich das entsetzliche Orakel von Vatermord und Inzest mit der Mutter vollzieht. Ein Theaterwunder: Die Masken verbargen nichts, sie legten bloß. Die Stimmen der Tragöden wurden durch sie nicht gedämpft, sondern verstärkt. Es hatte nichts mit Dekoration zu tun, es war schiere Entäußerung. Und Erschütterung.

Wie dieser Regisseur den Prozess der Zivilisation aufbrach, das hat etwas zutiefst Humanes. Man begreift auch nur allmählich, wie grundstürzend er den Blick auf Tschechow verändert hat. Und das will viel heißen in einer deutschsprachigen Theaterkultur, die mit Inszenierungen von Peter Zadek („Iwanow“) und Klaus Michael Grüber („An der großen Straße“) grandiose und radikale Tschechow-Interpretationen aufzuweisen hat. Nur, Gosch interpretierte nicht. Oder immer weniger. Mit seinem „Onkel Wanja“ und seiner „Möwe“ am Deutschen Theater Berlin überwindet sich das Regietheater selbst und kommt zu einem glücklichen Ende, nach jahrzehntelangen Glanzzeiten, Exzessen, Erfolgsmustern und Erschöpfungsritualen.

Natürlich gibt es Skeptiker, die Empathie nicht aushalten und gerade das für den ultimativen Regietrick halten: dieses Aufgehen der gottgleichen Machtinstanz des Regisseurs im Text und in seinen Figuren. Aber wer Goschs Tschechow-Abende erlebt hat, weiß aus eigener Erfahrung, wie brutal und genial hier Leben und Spielen, Theater und Tod beieinanderliegen. Dass dieses Theater etwas vermag, was das Leben nicht kann: Erfahrungen unvermittelt weitergeben.

Man wusste, wie krank Jürgen Gosch war. Die Premiere der „Möwe“ im Dezember stand schon im Zeichen des Todes. Ende April ging er zum letzten Mal in die Öffentlichkeit, bei der Premiere von Roland Schimmelpfennigs „Idomeneus“ wurde er im Rollstuhl ins Parkett gefahren. Zur Verleihung des Berliner Theaterpreises, den er sich mit seinem Bühnenbildner Johannes Schütz teilte, konnte er nicht mehr kommen. Er hat noch mit den Proben für die „Bakchen“ des Euripides für die Salzburger Festspiele und das Berliner Ensemble begonnen, aber der Krebs führt seine eigene Regie. Er reißt Gosch aus dem Leben in dem Moment, da die Spielzeit zu Ende geht.

Dafür gibt es keine Worte. Für diese letzten, beispiellos verdichteten Monate, in denen Jürgen Gosch uns beschenkt hat. Für diese letzten Jahre, in denen er uns den Glauben an das Theater zurückgegeben hat. Gosch und seinen Schauspielern ist es zu danken, dass wieder lange Gespräche über Theater geführt wurden. Gespräche, in denen es nicht um Überdruss, Kulturpolitik und Marketingstrategien eines angeschlagenen Kulturbetriebs ging. Gespräche über Tschechow, über die Liebe und die rasende Zeit. Nie verlässt einer seiner Schauspieler vor der Zeit die Bühne, immer bleiben sie zusammen bis zum Ende. Ein Klammern ans Hier und Jetzt.

Kaum dass man den Sog der Leere beschreiben könnte, dieses Alles und Nichts, die gemeinsame Behausung, in die einzutreten seine Arbeiten einladen. Gosch und Schütz haben die vierte Wand negiert, oder nach hinten verschoben. Beim „Wanja“ changiert sie in Lehmfarben, in der „Möwe“ ist sie pechschwarz, bei „Idomeneus“ strahlend weiß: Morgenleuchten, Mittagsverzweiflung, Abendversprechen. Der Anblick rührt zu Tränen. Eine Bühne als lebendiges Wesen, wie im Rätsel der Sphinx, das Ödipus löst: Was geht morgens auf vier, mittags auf zwei, abends auf drei Beinen?

Jürgen Gosch hat das Theater als ein launenhaftes Ungeheuer erlebt. 1978 musste er nach einer Inszenierung von „Leonce und Lena“ an der Volksbühne die DDR verlassen. Barbarisch, dass dieser zarte und bescheidene Mann des Nihilismus geziehen wurde. Als er 1988 die Schaubühne in ihrer schwersten Krise übernahm, hat man seinen unglücklichen Berliner „Macbeth“ verlacht. Auch sein dritter Anlauf in Berlin, ab 1994 am Deutschen Theater, ging schief. Später sagte er über diese Zeit: „Ich wusste bei jeder Premiere, dass das, was auf der Bühne gespielt wurde, nichts zu tun hatte mit dem, was ich erreichen wollte. Im Grunde hat mich nie etwas anderes interessiert, als Geschichten über die Liebe zu erzählen.“

Der Tod fälscht jede Lebens- und Liebesgeschichte, er stellt Zusammenhänge und Zeitläufte her, die es so klar nie gegeben hat. Vor fünf Jahren, Bernd Wilms war Intendant, kehrte der 1943 in Cottbus geborene Jürgen Gosch noch einmal ans Deutsche Theater zurück – und erlebte mit „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ mit Corinna Harfouch und Ulrich Matthes einen Triumph. Er hatte seine Sprache, seine Schauspieler, seinen Platz gefunden, endlich, in der Stadt, in der er aufgewachsen war. Seither ist sein Rang unbestritten gewesen, beim Theatertreffen, in den Bestenlisten von „Theater heute“. Gosch und der gleichaltrige Dimiter Gotscheff – auch der Bulgare hat magere Zeiten hinter sich – wurden zu Dioskuren des zeitgenössischen Theaters.

Doch wird man Gosch mit solchen Dramaturgensätzen nicht gerecht. Seine Laufbahn konnte gar nicht gradlinig sein. Wie sollten sich existenzielle Erfahrungen wie im „Oedipus“, im „Macbeth“ betriebskonform wiederholen? Wie sollte ein Regisseur die Sphinx des Staatstheaters in Ost und West beständig füttern, wenn er mit Konvention und Mode nichts anzufangen weiß? Gosch hat Schweigen inszeniert, Stille, Warten, Unordnung, Leiden, die flirrenden Gespenster, die Synapsen der Texte. Seine Aufführungen atmen den unergründlichen Geist der Theaterprobe, wenn ein Moment entsteht, wenn die Zeit steht wie ein tiefes Wasser und ein Engel durch den Raum geht. Und er liebte das kindliche Spielen im Dreck, die Freiheit und Lust einer endlosen Zimmerschlacht.

Als das Theater sich selbst nicht mehr verstand, hat es Verständnis für Jürgen Gosch gefunden. In der Nacht zu Donnerstag ist er in seiner Berliner Wohnung gestorben. Er wurde 65 Jahre alt.

Rüdiger Schaper

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