Tom Schilling singt jetzt auch: „Jubelhymnen langweilen mich“
Schauspieler Tom Schilling über sein düsteres Debütalbum „Vilnius“, die Schönheit der Schwermut und die Unmöglichkeit, Kinder narbenfrei zu erziehen.
Herr Schilling, Sie wollten nach eigener Aussage nie ein singender Schauspieler sein. Jetzt bringen Sie Ihr Debütalbum heraus. Was ist passiert?
Das finde ich nach wie vor schrecklich. Abgrenzung ist mein großes Thema, auch vom Etikett des singenden Schauspielers. Aber vielleicht bin ich jetzt etwas reifer geworden und habe verstanden, dass man, wenn man einen Beruf hat, trotzdem noch einen anderen machen kann. Also kann man da ruhig etwas großzügiger denken. Und warum soll dieser zweite Beruf dann nicht auch Schauspieler sein?
Dann sind Sie also ein Musiker, der auch schauspielert?
Die Aversion gegen singende Schauspieler kommt ja daher, dass man das Gefühl hat, jemand braucht noch eine zweite Bühne. Und eigentlich kann er’s nicht. Und weil er’s nicht kann, lässt er sich irgendwas von einem Majorlabel schreiben, das glücklich ist, dass es den Künstler nicht aufbauen muss, weil der schon einen Namen hat. Und dann verschenken musikferne Leute die Platten zum Geburtstag. Das ist das Kalkül. Aber all das ist bei mir und meiner Band Jazz-Kids nicht der Fall. Ich habe irgendwann gemerkt, dass diese Platte eine Daseinsberechtigung hat. Dass ich mich dafür nicht schämen muss. Ich lasse mir ja nichts schreiben oder tue so, als könnte ich singen. Ich kann im Gegenteil was hinzufügen, das sich stark von anderen Pop-Platten unterscheidet.
Das Album heißt „Vilnius“, obwohl die Stadt in keinem Ihrer Texte auftaucht.
Der Titel ist persönlich aufgeladen, so wie die ganze Platte. Ich finde, das sollte Kunst immer sein. Ich habe in Vilnius mal einen Film gedreht, die Stadt hat mir extrem gutgetan, es war ein Wendepunkt in meinem Leben. Je persönlicher ich auch als Schauspieler eine Figur mit meiner Biografie aufladen kann, desto besser werde ich. Mehr möchte ich aber nicht preisgeben, der Titel soll rätselhaft bleiben. Dann ist da noch meine Vorliebe für die osteuropäische Schwermut und für Volksmusik, wie sie in dem Song „Rastayaev“ über den Akkordeonspieler gleichen Namens beschrieben wird. Der ist zwar Russe und nicht Balte, aber die Mentalitäten ähneln sich.
Ein melancholisches, in Grautönen gehaltenes Seestück von Gerhard Richter ziert das Cover: Warum haben Sie das gewählt?
Ich habe ihm einen Brief geschrieben und der hat seine Wirkung entfaltet. Für mich war schon lange klar, dass das Cover ein Seestück sein muss. Das verbildlicht am ehesten meinen Gemütszustand und auch die Atmosphäre der Songs. Dann ist mir aufgefallen, dass ich es längst mit mir herumtrage. Seitdem ich vor sechs Jahren in der Richter-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie war. Da habe ich das Bild mit dem Titel „Seestück, bewölkt, Werkverzeichnis 235“ fotografiert. Es ist mein Handy-Hintergrund.
Sie danken dem Regisseur Jan-Ole Gerster, mit dem Sie „Oh Boy“ gedreht haben, im Booklet mit dem Satz, dass die CD ohne ihn nie entstanden wäre: warum?
Jan-Ole hat mir meine erste Gitarre geschenkt. Und er war der Erste, der gesagt hat, die Songs sind gut. Außerdem hat er mich durch den Film mit der Band Jazz- Kids bekannt gemacht. Das hat alles eine große Schicksalshaftigkeit.
Die Jazz-Kids spielen einen rumpeligen, rockigen, balladesken Düsterpop: Das ist doch Etikettenschwindel.
Die Bezeichnung war der Spitzname für die Jungs, mit denen wir uns angefreundet haben, nachdem sie die Musik für „Oh Boy“ in zwei Wochen komponiert und in zwei Tagen eingespielt haben. Für uns war unfassbar, wie man so jung und so talentiert sein kann. Deswegen hat Jan-Ole sie immer Jazz-Kids genannt. Das habe ich jetzt einfach übernommen. Klar ist es ein Etikettenschwindel, aber der Begriff Kids gefällt mir gerade im Kontrast zu unserer Musik. Die ist ja eher schwer. Die meisten meiner Songs sind in Moll komponiert. Und die anderen haben nicht aufs Album gepasst. Ich wollte eine Moll-Platte.
Sie haben die Lieder selber geschrieben: mit welchem Handwerkszeug?
Ich kann Gitarre und Klavier spielen, beherrsche aber keine Harmonielehre. Ich probiere einfach aus. Erst suche ich Akkordfolgen und dann eine Melodie dazu. Die Texte sind immer zuerst da.
Haben Sie das Album aus charismatisch- nostalgischen Gründen in den Hansa-Studios eingespielt?
Ich hätte mir keinen besseren Ort vorstellen können. Die Musik, die ich toll finde, wurde in den Achtzigern da aufgenommen. Nick Cave hat dort die Alben „Your Funeral, my Trail“ und „Tender Pray“ eingespielt, die mich am meisten bewegt haben. Und mein Produzent Moses Schneider hat dort angefangen. Das ist auch ein Grund, warum ich ihn musikalisch und als Produzenten so toll finde.
Wie sind Sie musikalisch geprägt, wer sind Ihre Helden?
Meine erste ernsthafte Erinnerung ist ein Song von Leonard Cohen im Autoradio meiner Eltern. Der hat mir total gut gefallen. Der Hang zum Getragenen war bei mir schon früh da. Mit elf, zwölf ging das bei mir los, dass ich mich abgrenzen wollte. Also habe ich mir was gesucht, was ich subkulturig fand und bin auf die Berliner Band The Inchtabokatables gestoßen, die ziemlich theatralischen Indie-Rock gemacht haben.
Mit der Vorliebe fürs Theatralische hätten Sie auch bei Rammstein landen können.
Bin ich auch. Der Bassist von den Inchtabokatables hat dann auch prompt bei Rammstein angefangen. Die wurden dann auch wichtig für mich. Und Nick Cave. Das war so eine Achse.
Dessen musikalischer Vortrag „The Secret Live of Love Songs“ soll nun auch Ihre Lieder beeinflusst haben.
Er hat gesagt, dass es in jedem Kunstwerk irgendwas Spirituelles, Göttliches geben muss, was uns betroffen macht. Es geht um Demut, aber auch um Verlust. Das ist der Gegenpol, den man braucht, um die Schönheit des Lebens überhaupt zu verstehen. Den Kontrast sieht man wirklich in jedem seiner Songs, aber auch in einem Lied wie „Ain’t No Sunshine“ von Bill Withers.
Also muss, um die Lieblichkeit des Lebens aushalten zu können, immer eine dunkle Tapete dahintergeklebt werden?
Ja, sonst bleibt es ein bisschen hohl.
Hohl kann auch die dauerhafte Maske des Schmerzes sein.
Das ist die Gefahr. Deswegen gibt es so viele schlechte Lieder.
Wieso haben Sie ein so düsteres Bild von der Liebe? Hat sie Ihnen übel mitgespielt?
Nein, nur ist die Sehnsucht so ein schönes Gefühl. Das vollkommene Familienglück ist auch toll, aber es fällt Menschen schwer, Freude auf Dauer intensiv zu empfinden.
Das Glück stumpft ab?
Es verbraucht sich. Genauso wie der Luxus, im Wohlstand zu leben. Außerdem klingt es einfach schöner, Lieder in ein dunkles Gewand zu kleiden. Jubelhymnen langweilen mich.
Wenn ich die Zeile „Hier draußen im See liegst du und ein Stein“ im Song „Draußen am See“ richtig deute, geht es bei Ihnen nach alter Moritatensängerart sogar um Frauenmord: Muss das sein?
Der Text könnte auch nur eine Metapher für die Liebe sein. Nur durch den Stein und den See kehrt er sich um. Es ist eine kleine Reverenz – nicht nur an Nick Cave, der ein ganzes Album mit Moritaten geschrieben hat, sondern auch an einen Film, den ich mal gedreht habe, „Woyzeck“ nach Georg Büchner.
Ein mörderisches Eifersuchtsdrama, das mir mit seinen überkommenen Rollenbilder wahnsinnig auf den Keks geht.
Ich finde es unglaublich stark. Büchner war ja erst 22 Jahre alt, als er das geschrieben hat. Jetzt schäme ich mich fast, dass mir „Woyzeck“ gefällt.
Bloß nicht. Jeder, wie er mag. Sie haben ja auch allen Ernstes Bettina Wegners „Sind so kleine Hände“ wieder ausgegraben.
Über Bettina Wegner bin ich bei der Recherche für einen Film gestolpert. Ich habe den Song auf YouTube gesehen und er hat mich so tief bewegt wie selten eine Musik. Ich wollte das als einziges Cover einspielen, weil es sich irrsinnig gut einfügt. Kindheit ist ein zentrales Thema der Platte.
Nicht die zwischenmenschlichen Abgründe?
Die auch. Außerdem wollte ich Bettina Wegner zeigen, dass ich sie toll finde. Viele finden ihre Haltung ja penetrant und moralin. Das kann ich nicht nachvollziehen. Ihr liegt halt nichts ferner als cool zu sein. Sie nennt die Dinge beim Namen. Das ist eine Verbindung zu meiner Musik. Ich bin besessen von meiner eigenen Kindheit. Kindererziehung ist so ein großes Thema. Wenn ich nach links und rechts schaue und erwachsene Menschen sehe, die gestrauchelt sind, dann sehe ich in denen immer die Kinder. Und als Vater zweier Kinder bin ich ja selber in der Situation. Es ist tragisch, dass es uns so schwerfällt, Kinder so zu erziehen, dass sie nicht unseren eigenen Rucksack, unsere eigenen Traumata mit auf den Weg bekommen. Kinder narbenfrei zu erziehen ist fast unmöglich.
So ist das Leben auch nicht gedacht. Es gibt keinen Anspruch auf Narbenfreiheit.
Trotzdem möchte ich sie als Vater so gut wie möglich vermeiden, denn je größer die Verletzungen, desto neurotischer und psychopathischer werden die Erwachsenen.
Was bedeutet Ihnen die deutsche Sprache beim Texten und Singen?
Die purzelt einfach so aus mir raus. Sie ist von Liederschreibern beeinflusst, die ich toll finde. Till Lindemann von Rammstein beispielsweise, der eine blumige Sprache pflegt, mit Ausdrücken, die der deutschen Romantik entlehnt sind. Was den Klang der Wörter angeht, haben mich er und Sven Regener von Element of Crime geprägt.
In der Öffentlichkeit treten Sie stets im eleganten Dreiteiler auf: Ist das ein modisches Statement oder eine nostalgische Reminiszenz, die ich auch auf der Platte heraushöre. Kurz gefragt: Sind Sie ein Retrotyp?
Genau, ich bin ein Retrotyp! Aber ein Anzug ist doch klassisch. Ich würde sagen, ich bin ein antimodischer Typ. Alles, was ich sonst tragen könnte, wäre ein viel größeres modisches Statement als ein zeitloser Anzug.
Das Gespräch führte Gunda Bartels.
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