Solist, Komponist, Dirigent: Jörg Widmann ist eine Ausnahmeerscheinung der Musik
Der Münchner überschreitet in seinem Werk gerne Grenzen. Nun ist er Artist in Residence der Kammerakademie Potsdam. Ein Treffen.
Wenn es eine Muse der Klarinette gäbe, dann dürfte Jörg Widmann ihr aktueller Favorit sein. Der gebürtige Münchner ist eine Ausnahmeerscheinung in der Musik der Gegenwart. Und ein höchst lebendiger, unprätentiöser und emphatischer Gesprächspartner.
„Bei mir kommt alles von der Klarinette“, sagt Widmann und erklärt, dass er sich als schon als Kind immer wahnsinnig geärgert hätte, weil er sich am nächsten Tag nicht mehr an die „schönen Stellen von gestern“ erinnern konnte, die ihm beim Üben und Improvisieren eingefallen waren. Die damals bereits reichlich sprudelnde Inspirationsquelle brauchte eine Struktur und so studierte Widmann seit seinem elften Lebensjahr Komposition.
Eine kindliche Lust an der Entdeckung ließ den Jungen nach immer neuen, quasi unmöglichen Klängen suchen. Gleich in Widmanns erstem Stück, der Fantasie für Klarinette solo, erhielt sein Instrument einen imposanten Auftritt. Mit einem gehaltenen Akkord von vier Tönen widerlegte der Komponist die traditionelle Vorstellung, dass die Klarinette nur über eine Stimme verfügt.
Von seiner drei Jahre jüngeren Schwester, der Geigerin Carolin Widmann, lernte er nicht nur alles über die Streichinstrumente und die Geige im Speziellen. Manch eine Idee kam ihm allein schon, wenn er ihr beim Üben zuhörte.
Und das musste dann gleich, am besten noch mitten in der Nacht, aufgeschrieben werden. Am Morgen danach fand die Schwester einen Zettel mit Fragen auf den Frühstückstisch, den sie oft zuerst mit einem kräftigen „Du bist verrückt!“ beantwortete. Doch dann reisten sie gemeinsam in ferne, noch unbekannte Klangwelten.
Widmann begegnet dem existentiellen Paradox des Menschen spielerisch
Viele von Widmanns Werken künden von lustvoller Überschreitung von Grenzen und Konventionen. Ein besonders extremes Beispiel ist – selbst für seine Verhältnisse – das Stück mit dem Titel „ad absurdum“ für Trompete und kleines Orchester, das im Februar 2021 im Nikolaisaal Potsdam erklingen wird.
Schon die Ausgangssituation erscheint im Wortsinn atemberaubend, wenn der Solist minutenlang mit Tripelzunge spielt, das heißt ohne zu atmen. Da halten manchmal selbst die Zuhörer den Atem an. „Das Stück beginnt bei Tempo 180,“ sagt Widmann, „da kann man nur scheitern.“
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Obwohl der Solist aberwitzig virtuose Passagen meistern muss, erweist er sich als Verlierer, denn er kann mit der Drehorgel, die zum Schluss auf die Bühne gestellt wird, nicht mehr mithalten. So führt das Werk den klassischen Konsens über den Solisten als triumphierenden Helden ad absurdum.
Jörg Widmann gefallen solche Ausgangssituationen, die von vornherein nicht gut ausgehen können. Dem existenziellen Paradox des Menschen begegnet er gern spielerisch, leichtfertig, scheinbar planlos.
Er hat mehr Angst vor den Folgen, als vor Corona
Widmanns luftige Klangspielereien erinnern manchmal an Friedrich Schillers Diktum, wonach der Mensch nur da ganz Mensch ist, wenn er spielt. Doch der Blick auf die Partituren zeigt höchst präzise, wohlüberlegte Strukturen und Anweisungen.
Provokation als solche ist kein Thema. Erst recht nicht möchte Widmann, der sich immer wieder mit der Tradition auseinandersetzt, in eine Denkschublade eingeordnet werden. Besonders nahe stehen ihm die Komponisten der Romantik. Eines seiner persönlichsten Stücke, die „Fieberfantasie“, wäre ohne Robert Schumanns erste Violinsonate gar nicht denkbar.
Überhaupt könne er über Schumann nur in „Kategorien der Liebe und Verehrung sprechen“, sagt Widmann. Dem Schöpfer des romantischen Klarinettenklangs, Carl Maria von Weber, widmete er gerade eine CD – nicht nur, weil er ihn für einen unterschätzten Komponisten hält, sondern auch als bewussten Rückblick auf die Herkunft.
Wie es mit der Musik nach Corona weitergeht? Jörg Widmann hat weniger Angst vor dem Virus, sondern vor den Folgen: „Es betrifft uns alle auf der ganzen Welt, und einigen Menschen geht es an die Existenz. Aber wir hier sind noch privilegiert. Als Musiker sollten wir jetzt noch lauter werden.“
Er stellt ein antikes Motto in Frage
Nachdenklichkeit und Widerstand sind weitere Kategorien in Widmanns Schaffen. So fragte schon der Zwanzigjährige in seinem Trio „Tränen der Musen“, ob die Musen überhaupt schweigen dürfen, wenn die Waffen sprechen – und stellte so ein antikes Motto in Frage, wonach in Kriegszeiten nur die Waffen herrschen dürften. „Gegen die Küsse der Muse habe gerade ich wirklich nichts“, sagt Jörg Widmann.
In dieser Saison ist er Artist in Residence der Kammerakademie Potsdam. Mit dem Ensemble hat Widmann schon mehrfach zusammengearbeitet. „Die Kammerakademie muss man lieben für den Geist, den Enthusiasmus und die absolute Hingabe an die Musik“, erklärt der 47-Jährige. „Bei aller detaillierten Arbeit lachen wir auch oft zusammen.“
Sechsmal tritt Widmann 2020/21 mit der Kammerakademie auf – als Solist, als Dirigent und natürlich als Komponist. Mit diesen drei Rollen repräsentiert Jörg Widmann ein universelles Musikerdasein, das heutzutage weitgehend verloren gegangen ist, aber früher selbstverständlich war, als viele ausübende Musiker auch Komponisten waren.
Ein Klarinettist allerdings, der gleichzeitig so zahlreiche, unterschiedliche und in aller Welt aufgeführte Werke komponiert hat wie Jörg Widmann, sucht in der Musikgeschichte noch nach seinesgleichen.
Babette Kaiserkern