Berlinale: Generation KPlus und 14 Plus: Jetzt helfe ich mir selbst
Papierflieger und Synchronschwimmerinnen: die Reihen GENERATION KPLUS und 14 PLUS zeigen Kino von, über und nicht immer für Jüngere. Ein schwedischer Beitrag sorgt im Vorfeld für Diskussionen.
Der Junge muss allein durch den Wald. Er ist überzeugt, dass sich in den rauschenden Bäumen böse Geister verbergen. Schließlich nimmt einer Gestalt an, als zischendes Feuer mit gefährlich funkelnder Maske. „Schau der Angst ins Gesicht, dann geht sie weg!“, sagt eine Stimme. Der Junge ist höchstens zwölf, er will nicht. Doch er fügt sich. Schaut. Der Spuk verschwindet.
Die Szene aus „Goldenes Königreich“ ist ein großer Kino-Moment; von der Courage des jungen Novizen aus Myanmar können Sinnsuchende jeden Alters lernen. Aber auch Zehnjährige, wie im Programm empfohlen? Das wird lustig, mit einer Schulklasse einen Film zu sehen, in dem fast nichts passiert, außer dass sich unterschwellige Bedrohung aufbaut.
Ähnlich ist es mit „Schneepiraten“ aus der Türkei, nur dass die Bedrohung hier deutlicher ist. Das ganz normale Leben in der Militärdiktatur 1981, schließlich Folterschreie eines verehrten älteren Freundes, empfohlen ab 10. „Stella“ aus Schweden erzählt von einer pummeligen kleinen und einer magersüchtigen großen Schwester. Die anfängliche Blindheit und spätere Hilflosigkeit der Eltern, den schieren Nervenkrieg ums Essen kann man vielleicht mit einzelnen Zwölfjährigen anschauen, aber eine ganze Schülergruppe bei diesem Film angemessen zu begleiten, dürfte fast unmöglich sein.
Maryanne Redpath mit Produktionen über, nicht für Kinder
Es hat sich nichts bei Generation Kplus geändert, der Reihe mit Kinderfilmen und Filmen über Kinder, auch wenn Maryanne Redpath, langjährige Ko-Leiterin der Sektion Generation, nun alleinige Chefin ist. Es werden wenige tolle Filme gezeigt – und viele Produktionen, in die nicht jeder mit Kindern gehen möchte.
Wunderbar ist allerdings der australische „Papierflieger“, der Generation Kplus eröffnet. Nach allen Regeln der Filmkunst wird lustig, spannend, berührend erzählt, wie ein Zwölfjähriger Junge über sich selbst hinauswächst. Eine Ausnahme, die die Regel bestätigt: Warum wird ein Film wie „Das himmlische Kamel“ aus der Russischen Föderation ausgesucht, der in original sozialistisch-realistischer Manier eine Heldengeschichte erzählt, als habe die Welt sich seit den 50er Jahren keinen Millimeter weitergedreht? Warum der dänische „Antboy: Die Rache der Red Fury“, nach dem ersten „Antboy“ im vergangenen Jahr der nächste mittelmäßige Superheldenfilm, der ohnehin im Kino laufen wird? Warum „Mini und die Fahrradmücken“, auch aus Dänemark, ein Zeichentrickfilm mit angestaubter Siebziger-Jahre-Ästhetik, antiquierter Xylophonmusik und umständlich erzählter Story?
Noch eine Ausnahme: „Das größte Haus der Welt“. Ein kleines Hirtenmädchen muss in den Bergen Guatemalas ihre Herde zusammenhalten. Wieder geht es darum, die eigene Angst zu überwinden. Ein Film wie ein Märchen, sparsam, archaisch, eine Frauengeschichte um Geburt und Tod (empfohlen ab 7). Herausragend auch „Konfetti-Ernte“ aus den Niederlanden, der Ende der achtziger Jahre in einer strengen protestantischen Familie spielt. Das könnte trostlos sein, doch die Lebenslust der einzigen Tochter, Katelijne, lässt sich nicht unterdrücken. Ihr gelingt es, den engen Rahmen zu sprengen. Empfohlen ab 12 (frühestens).
Aufregung um "Flocken"
Beinahe wäre Generation 14plus, die Reihe mit Filmen für Jugendliche, dieses Jahr in die Schlagzeilen geraten. „Schwedischer Film auf Wunsch betroffener Familie aus dem Programm genommen“ oder so ähnlich hätte die Meldung gelautet. Bewohner eines im Spielfilm fiktionalisiert dargestellten Dorfes hatten es sich bis kurz vor Festivalbeginn vorbehalten, die Uraufführung des schwedischen Beitrags „Flocken“ (zu deutsch: Herde) zu untersagen. Um es nun doch nicht zu tun. Die Aufregung um „Flocken“ nimmt sich wie ein Nachhall der beklemmenden Geschichte aus, die der Film erzählt. Nachdem die 15-jährige Jennifer ihren Mitschüler wegen Vergewaltigung angezeigt hat, ist sich die gesamte Dorfgemeinschaft sicher: Jennifer lügt. Doch nicht hier bei uns im Dorf, nicht dieser nette Junge, dessen Mutter im Kirchenchor singt. In unbewegten Einstellungen zeigt der Film die Sprach- und Hilflosigkeit einer geschlossenen Gesellschaft und wie sie in Aggressionen gegen Schwache umschlägt. Gruppendynamik, Ausschlussmechanismen – eine drastische Story.
Als entschiedene, hilflose, aber dennoch selbstbestimmte junge Frau ist Jennifer (Fatime Azemi), die Protagonistin von „Flocken“ im Programm der Generation 14plus in bester Gesellschaft. Bei aller Themenvielfalt sind es die weiblichen Hauptfiguren, die sich stur und stark ins Zuschauergedächtnis einbrennen. Dass auch die Protagonistin aus Lamberto Sanfelices italienischem Debütfilm „Cloro“ Jennifer heißt, ist natürlich ein Zufall im Glücksrad der Festivalmaschinerie.
Ein wiederkehrendes Sujet: Den überforderten, oft egozentrisch in ihren eigenen Konflikten gefangenen Erwachsenen setzen die 14plus-Protagonisten die energische Entschiedenheit der Jugend entgegen. „Ich kann mich nicht um ihn kümmern, du musst ihn nehmen!“, erwidert die fast volljährige Jennifer ihrem Onkel, der die Verantwortung für ihren kleinen Bruder auf das Mädchen abwälzen möchte. Seit dem Tod ihrer Mutter schmeißt sie den Haushalt in der provisorischen neuen Unterkunft im verschneiten Skigebiet, ihr Vater ist depressiv. Jennifers Traum: Sie will bei den Synchronschwimm-Meisterschaften gewinnen. „Cloro“ erzählt in assoziativen Bildern, vor betörend schönem Bergpanorama, konsequent aus Jennifers Sicht.
Zu jung erwachsen sein müssen und sich dennoch die Kindheit bewahren: schöner Moment, als Jennifer die Wohnung mit ihrem Bruder verwüstet! Eine Oase der Unvernunft inmitten der aus Not geborenen Beherrschung.
Uwe Ochsenknecht verliert als Querschnittsgelähmter den Lebensmut
Hauptfigur Nena im gleichnamigen niederländischen Film von Saskia Diesing ist dagegen wohlbehütet und unbeschwert. „Eine Nacht mit Kim Basinger oder ein Nachmittag mit Franz Kafka?“ fragt sie ihren Vater vergnügt, und der antwortet prompt: „Kafka natürlich!“ Der ehemalige Literaturprofessor und seine Tochter sind in Wortspielen geübt, sind sich nah und vertraut. Doch während Nena (Shootingstar Abby Hoes) sich zum ersten Mal verliebt, verliert ihr querschnittsgelähmter Vater (Uwe Ochsenknecht) immer mehr den Lebensmut. Ein temporeicher, traurigschöner Film über eine mutige Entscheidung mit zwei herausragenden Darstellern.
In Marie Hellers „The Diary of a Teenage Girl“ aus den USA steht im Zentrum, was wohl alle Jugendlichen irgendwann beschäftigt: die Entdeckung des eigenen Körpers und der Sexualität. San Francisco in den siebziger Jahren: Die 15-jährige Minnie ist neugierig, impulsiv – und weiß noch nicht, sich vor Verletzungen zu schützen. Ausprobieren statt hinterfragen, lautet die Devise, auch bei dem Freund (Alexander Skarsgård) ihrer Mutter (Kristen Wiig). Minnie will Comiczeichnerin werden: Also zeigt dieser ehrliche, differenzierende Film ihre Sicht auf die verwirrende Welt in gezeichneten Sequenzen.
Zwei Weltpremieren
Zwei Weltpremieren bei 14 plus: „El Gurí“ (The Kid) aus Argentinien und „Mina Walking“ aus Afghanistan. In „El Gurí“ findet sich die poetische, aufmerksam beobachtende Bildersprache, die sich zum Kennzeichen des zeitgenössischen argentinischen Kinos entwickelt hat (man denke an „The Prize“ und „The Puzzle“ aus jüngeren Berlinale- Wettbewerben). „ Mina Walking“ wiederum zeigt das heutige Kabul aus Sicht einer Zwölfjährigen, die auf sich gestellt ist.
Der Topos des frühreifen Teenagers, der durch außergewöhnliche Belastungen über sein Alter hinauswächst, ist gewiss nicht neu. Aber die jungen Protagonistinnen dieser Filme aktualisieren ihn auf besonders charmante Weise. Und sie sind, so scheint es, die besseren Erwachsenen. Vielleicht, denkt man angesichts dieser Generation-Filme, sind Teenager ja einfach Menschen, die sich noch nicht mit faulen Kompromissen zufrieden geben.