Der Fall James Levine: Jetzt hat auch die Klassikwelt ihren Missbrauchs-Skandal
Wie die Muster sich gleichen: Gerüchte um Übergriffe kursierten in der Szene seit Jahrzehnten. Mit der Suspendierung James Levines an der New Yorker Met wurden sie nun öffentlich.
Die New Yorker Metropolitan Opera hat ihren langjährigen Musikdirektor James Levine wegen Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs suspendiert. Die Zusammenarbeit mit dem 74-Jährigen sei ausgesetzt, teilte das Haus mit, nachdem Levine noch am Samstag Verdis „Requiem“ dort dirigierte. Der an Parkinson erkrankte, im Rollstuhl dirigierende Maestro, vier Jahrzehnte lang Chef in New York, wird weder die Silvesterpremiere von „Tosca“ leiten noch die vorgesehenen Aufführungen von Verdis „Luisa Miller“ und „Troubadour“.
Zunächst hatten US-Medien von einem Polizeireport des Lake Forest Department, Illinois, von 2016 berichtet, demzufolge ein heute 48-jähriger Mann von 1985 bis 1993 von Levine bedrängt und missbraucht worden sei. Die „New York Times“ veröffentlichte am Sonntag den Namen: Ashok Pai soll erste sexuelle Übergriffe als 15-Jähriger erlebt haben, am Rande des sommerlichen Ravinia Festivals am Lake Michigan, später hunderte weitere Male. Inzwischen bekundeten laut „Times“ zwei weitere Männer, ähnliches mit Levine bereits ab den 60er Jahren erlebt zu haben: Die damaligen Musikstudenten Chris Brown und James Lestock sprechen von Masturbation vor ihren Augen, von erzwungener Masturbation, von Missbrauch.
Darauf erklärte Met-Generaldirektor Peter Gelb, das Haus habe sich entschieden, jetzt zu handeln. „Es ist eine Tragödie für alle, deren Leben davon betroffen ist.“ Das Opernhaus hat eine Anwaltskanzlei mit einer internen Untersuchung beauftragt, deren Ergebnis man abwarten will. Levine bestreitet über seinen Sprecher die Anschuldigungen.
Nun hat auch die Klassik ihren Weinstein-Skandal. Wie der Film, wie das Theater, wie Show- und TV-Business ist die Musik eine Welt, in der Menschen ihren Beruf mit Leib und Seele ausüben. Ob auf der Bühne, dem Podium, im Orchestergraben oder im Probenraum, Nähe ist unabdingbar, auch körperliche Nähe. Auch der Ehrgeiz und die Machtstrukturen sind ausgeprägt: Die Gefahren gerade für junge Menschen sind groß, für Musikschüler, Studierende, Berufsanfänger – Stichwort Regensburger Domspatzen.
Noch Ende Oktober gastierte Levine in Berlin
Juristisch hat James Levine vorerst nichts zu befürchten, die Fälle sind verjährt. Das Renommee des Weltstars, dessen Nachfolger Yannick Nézet-Séguin sein Amt 2020/21 antritt, ist hingegen schwerstens beschädigt. Nicht nur in New York ist Levine ein lebender Mythos. Über 2500 Vorstellungen dirigierte er an der Met, ist berühmt für seine energischen, virilen Dirigate, die es lange mit sich brachten, dass er ganze Handtücher vollschwitzte. Auch in Deutschland hat Levine zahllose Verehrer, er war Chefdirigent der Münchner Philharmoniker von 1999 bis 2004, und noch Ende Oktober gastierte er in einem umjubelten Konzert mit Mahlers Dritter bei der Berliner Staatskapelle. Ein Konzert, so schrieb Ulrich Amling in dieser Zeitung, bei dem Levine die Symphonie langsam anging und sichtlich seine Kräfte schonte. Gleichwohl schlug er bei überraschend abgesenkter Lautstärke im archaischen Kopfsatz einen „ungemein kultivierten Ton an“.
Erst Harvey Weinstein, dann Kevin Spacey, jetzt James Levine: Die Muster von Macht und Missbrauch sind die gleichen. Auch der Umgang mit Gerüchten. Und das Schweigen rund um die mutmaßlichen Taten. Die Opfer sind junge Menschen, die von einer Karriere träumen. Und um sie herum herrschte eine gesellschaftliche Atmosphäre, die Missbrauch als Kavaliersdelikte verharmloste. Und wohl auch die Angst, derart große Künstler womöglich zu Unrecht zu diffamieren. Nach dem Motto: So einer ist too big to fail.
Die „New York Times“ berichtet jedenfalls von einem anonymen Schreiben an die Met aus dem Jahr 1979 mit Vorwürfen gegen Levine. Der Zeitung liegt ein in diesem Zusammenhang verfasster Brief des damaligen Geschäftsführers an ein Vorstandsmitglied vor. Darin heißt es, man habe „ausführlich“ mit Levine und seinem Manager gesprochen und glaube nicht, dass an den Anschuldigungen etwas Wahres sei. Ein potentielles Opfer klagt an, ein potentieller Täter streitet ab – Fall erledigt.
Gerüchte schon in den 90ern: Damals war von Rufmord die Rede
Der Tenor deutscher Medienberichte zu den Münchner Vertragsverhandlungen mit Levine 1997/98 ist noch unmissverständlicher. Auch da gab es offenbar Gerüchte über Päderastie, man recherchierte allerdings nicht den Missbrauchs-Vorwurf, sondern kritisierte Levines Kritiker. Von „intriganten Schmierfinken“ schrieb Klaus Umbach im „Spiegel“, von „selbsternannten Sittenwächtern“, die unter der Gürtellinie des Dirigenten schnüffelten. „Unter dem Siegel konspirativer Recherche animieren sie Journalisten, sich doch einmal im New Yorker Underground umzutun, Codewort: Lebenswandel, Stichwort: lasterhaftes Treiben bis hin zu kriminellen Verfehlungen, Michael Jackson und so,“ heißt es in dem Artikel. Die „Zeit“ empörte sich über den Rufmord.
Künstler sind keine besseren Menschen. Aber die Nicht-Künstler hätten es gern. Weshalb das Publikum mit Blick auf große Musiker, tolle Schauspieler oder kreative Produzenten zu gern glaubt, dass nicht wahr sein kann, was nicht wahr sein darf.
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