Jugend und Protest: Jenseits der Krawallkulisse
G20 hat es wieder gezeigt: Die politischen Stimmen der jungen Generation sind im öffentlichen Diskurs unterrepräsentiert. Das muss sich ändern.
Anfang Mai 2017 feierte die Zeitung „Die Welt“ eine Aktivistin in einem anderen Weltteil: „Sie ist Venezuelas schönste Demonstrantin“ verhieß die Überschrift. Dazu wurde das Foto einer Frau namens Caterina Ciarcelutti gezeigt, in rotem T-Shirt mit weitem Ausschnitt, einen Motorradhelm über dem wilden Blondhaar, einen Pflasterstein in der erhobenen Hand. Sie war Teil einer Demonstration gegen die sozialistische Regierung ihres Landes. Der „Welt“-Text verhieß: „Die bildhübsche Frau ist dem Vernehmen nach Model und Sportlerin.“ In der „FAZ“ wurde die athletische Aktivistin selbst zitiert: „Wir venezolanischen Frauen sind alle Guerilleras, das gehört zu unserer Persönlichkeit.“
Auf Twitter setzten G-20-Protestierende die Zeitungsseite mit der Steinewerferin jetzt neben eine andere vom 10. Juli. Dort forderte eine „Welt“-Schlagzeile: „Die folkloristische Haltung gegenüber dem linken Terror muss enden“. Flankiert wurde der Text vom Foto eines Polit-Hooligans in Hamburg, der den Arm zum Wurf mit einem Gegenstand hebt.
Flagrante Widersprüche dieser Art sind gleichwohl nicht das einzig Auffällige an den Debatten nach dem Debakel von Hamburg. Bitter bilanziert die Twitter-Beschwerde der Publizistin Carolin Emcke: „Jede TV-Minute, die der Gewalt der Hooligans gewidmet wurde, war eine Minute, in der nicht die Beschlüsse der #g20 kritisiert werden konnten.“
Hunderte von Gruppen organisierten einen Gegengipfel
Ja, so war das. Monatelang hatten junge Leute aus ganz Europa geplant, den Gipfel der Gruppe der zwanzig mächtigsten Regierungen samt Putin, Erdogan und Trump aufzustören, mit Aktionen, Demonstrationen und einem Gegengipfel auf dem Gelände der Hamburger Kampnagelfabrik. „Willkommen beim Gipfel für globale Solidarität!“ war ihr Motto, organisiert hatten sich dafür rund hundert Gruppen, ein Bündnis von Initiativen, Organisationen, Vereinen, Stiftungen, Gewerkschaften. Unter ihnen fand sich Attac, der Bund für Umwelt- und Naturschutz, Medico international, Flüchtlingsräte, das Bildungswerk Berlin, der Verein Agrar Koordination, die Ver.di-Jugend, die IG-Metall-Jugend, die Heinrich-Böll- und die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
In den TV-Talkrunden dominieren Senioren
Wo waren die Protestierenden in der medialen Sphäre zu sehen, zu hören, außer in einigen Fotostrecken im Netz? Wo überhaupt kommt die kritische, junge, linke Generation in öffentlichen Räumen zu Wort, etwa in den ARD- und ZDF-Talkshows mit ihrem konstant gleich bleibenden Gästepool? Als Attac-Vertreter gilt dort der wackere Heiner Geißler, 87 Jahre alt, und gewissermaßen als Allround-Protestierende darf mitunter Jutta Ditfurth dabei sein, vor der Wolfgang Bosbach unlängst in einer Runde Reißaus nahm. Sie hat auch bereits das Rentenalter erreicht. Gelegentlich war eine Zeitlang einer der exotischen „Piraten“ zu bestaunen, jetzt hat wieder Sahra Wagenknecht die Rolle der jüngsten Rebellin im Talkbetrieb, eloquent, strikt kontrolliert und telegen. Sie wird heute 48. Eher gelangt eine vollverschleierte Salafistin in ein Debattenstudio als einer oder eine aus den Reihen der jungen Aktivistinnen und Aktivisten mit der Utopie von der anderen Welt, die möglich ist.
Ein kollektiver Einspruch gegen die Verhältnisse
Zwischen 15 und 30 Jahre alt dürften die meisten der Angereisten in Hamburg gewesen sein, denen die Stadt Hamburg das Zelten in Grünanlagen untersagte. Dass Tausende von ihnen vorübergehend obdachlos waren, schürte Aggression – zur Freude der Schwarzmaskierten, die sich noch legitimierter sahen, die Aufmerksamkeit zu stehlen für das, worum es der großen Mehrheit geht.
Basis der Proteste gegen den G20-Gipfel ist kollektiver Einspruch gegen die Verhältnisse der Gegenwart. Die jungen Europäer demonstrierten gegen die Aufkündigung des Klimaabkommens durch die US-Administration, gegen Waffenhandel, Krieg in Syrien, neoliberale Globalisierung, deregulierte Finanzwirtschaft, postkoloniale Ausbeutung, Entsolidarisierung, weltweites Privilegiengefälle, die Zerstörung der Umwelt, gegen den Trend zum autoritären Populismus, die Jugendarbeitslosigkeit im Süden Europas. Nichts ist da legitimer, als Fragen zu stellen und Forderungen, wie das auch viele Werke der vom bürgerlichen Publikum geschätzten Kunstausstellung documenta 14 in Kassel und Athen wollen.
Der Empörungsdiskurs hat das Differenziertere übertönt
Überwiegend Jüngere waren zum Gipfelstören und Gipfelstürmen angereist, Leute aus der oft als unpolitisch und hedonistisch markierten Ego-Generation, die sich angeblich nur für Partys, Clubs und Smartphones erwärmen lässt. Beim Hamburger Protest ging es im Kern um die Jüngeren und die kommenden Generationen. Die Lebensbedingungen von morgen werden heute hergestellt – von den älteren Generationen, die nicht mehr am Leben sein werden, wenn eines Tages ihre ökologischen und ökonomischen Hinterlassenschaften bewältigt werden müssen. Schon darum ist das Interesse vieler Jüngeren hellwach. Dutzende von Diskussionsforen mit wissenschaftlichen Experten gab es in Hamburg, Workshops, Aktionen, Performances besucht von Tausenden. Auf dem Wasser der Elbe kreuzten Greenpeace-Schiffe, eines mit einer riesigen Trump-Baby-Figur, die kindisch das Klimaabkommen zerreißt.
Medial überwölbt wurden die gewaltfreien Proteste der farbenfroh friedlichen Ästhetik von der rauchschwarz dunklen Ästhetik der vermummten Plünderer und Brandschatzer. Enorme Faszination auslösend, drängte sie die Botschaften der G-20-Demonstranten an die Ränder der Aufmerksamkeit. Dass 76.000 Menschen am Samstagabend zum Gipfelende gewaltfrei am Demonstrationszug für „Grenzenlose Solidarität statt G20“ teilnahmen, wurde nur nebenbei in den Medien erwähnt. Längst hatte der krasse Empörungsdiskurs über die krassesten Empörten das Differenziertere übertönt, die aktivistische Fotofahndung der „Bild“-Zeitung nach „G20-Verbrechern“ sie überdeckt.
Wut auf Krawalltäter funktioniert wie ein Blitzableiter
Auch das gehörte zum „Klima der Gewalt“, die komplementären Aspekte, und die Massenpsychologie beider Seiten – Randalierer und Rechtsruckredner – samt Rhetorik wäre eine wissenschaftliche Studie wert. Volkes Zorn erscholl wider die „Chaoten“, die „rechtsfreien Räume“, lustvoll bis hasserfüllt, und bis hin zu Fantasien, man solle alle Störer kurzerhand wegsperren, aus der Welt schaffen. Wut auf Krawalltäter funktioniert wie ein Blitzableiter: An denen scheint das Schlimme sichtbar, greifbar und ergreifbar zu werden. Da, endlich, kann man es jagen und festnageln. Einer schockierenden Mitteilung des BKA während der Hamburger Tage widmeten Zeitungen meist nur ein paar Zeilen. Aufgedeckt worden war ein krimineller Ringhandel mit „Kinderpornographie“, eine Internet-Plattform mit 90 000 erwachsenen Produzenten und Konsumenten der Abbildungen vom Missbrauch Minderjähriger. Kein auch nur ansatzweise vergleichbarer Volkszorn entzündet sich angesichts rechtsfreien Räume, die im Darknet expandieren. Am liebsten richtet der Massenzorn sich gegen Utopisten, und noch enthemmter, wenn sie echten Anlass zum Ärger geben.
Umweltaktivisten haben einiges erreicht - trotz Kritik und Spott
Im Hamburg der siebziger und achtziger Jahre entwickelte sich die deutsche Sektion von Greenpeace International, bei der ich damals etwa zehn Jahre gearbeitet habe. Unablässig bekamen wir zu hören, Gutmenschen und Weltverbesserer, Chaoten und Utopisten wie wir seien eine „Gefahr für den Industriestandort Deutschland“. Grüne würden überhaupt irre Visionen verbreiten. Trotzdem haben uns Millionen auf allen Kontinenten unterstützt. Wir wollten bleifreies Benzin, das schien undenkbar. „Ihr ruiniert die Autoindustrie!“ warnten die alarmierten Manager, deren Ingenieure wenig später Wege fanden, Blei aus dem Sprit zu verbannen. Heute gibt es hunderttausende Jobs in der Solar- und Windkraft, in Fotovoltaik und Elektromobilität, Atombombentests sind verboten, der Schutz der Ozonschicht nimmt zu.
Mit alledem ist noch keineswegs vollendete Gerechtigkeit in die Welt gekommen. Aber einiges wurde immerhin verändert und gewonnen. Es gibt heute hunderttausende Weltverbesserer, das ist zu begrüßen. Und alle in der Gesellschaft sollten sie sehen und hören können.