Mely Kiyak schreibt einen Brief an Europa: Jenseits der Grenze
Für eine neue europäische Gemeinschaft: Sprache soll verbinden, nicht trennen. Und wir müssen mehr Bücher übersetzen
Am 8. Oktober wird auf der Frankfurter Buchmesse der Literaturpreis der Europäischen Union verliehen. Die Jurys haben, zum sechsten Mal, Texte aus 13 Ländern gesichtet. 2014 kommen die Preisträger aus Albanien, Bulgarien, Griechenland, Island, Lettland, Liechtenstein, Malta, Montenegro, Niederlande, Serbien, Tschechische Republik, Türkei und dem Vereinigten Königreich. In Kooperation mit der Frankfurter Buchmesse veröffentlicht der Tagesspiegel zu diesem Preis „Briefe an Europa“ von europäischen Autoren, die auch an einer sich an die Preisverleihung anschließenden Europa-Debatte teilnehmen werden. Mely Kiyak lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin.
Die Idee war, dass man ungeachtet aller Sprachen und Kulturen, miteinander lebt, einander vertraut, die Grenzen nicht mehr kontrolliert. Die Idee umfasste natürlich auch freien Warenverkehr und den Austausch von Arbeitskräften. Jeder zahlt mit einer Währung. Und irgendwann einmal in ferner Zukunft sollte es ein Parlament geben, wo Mitglieder aller Länder und Sprachen diesen Sehnsuchtsort gemeinsam organisieren. Am Ende des Weges sollte Frieden, Glück und Harmonie herrschen. Diese verrückte kleine Idee hieß Europa.
2014 leben wir formal in einer europäischen Union. Mental jedoch scheint es, als wären wir weit entfernt von dieser Idee namens Europa. Die größten gemeinsamen gesellschaftspolitischen Diskurse, die gesamteuropäisch geführt werden, betreffen stets die Abgrenzung voneinander und nicht den Zusammenschluss. Oft geht es darum, wer nicht dazu gehören, wer nicht über die Grenzen kommen darf, wer nicht mehr von der Währung profitieren soll.
Die Europäische Union sieht sich einer großen Welle von Bürgern verschiedener Nationen gegenüber, die am liebsten wieder eine Grenze um sich ziehen wollen. Das geschieht immer öfter auch innerhalb einer Nation und ihren verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Die Selbstdefinition dieser sich misstrauisch gegenüber stehenden Gruppen orientiert sich entlang religiöser, kultureller, ökonomischer Merkmale, also ziemlich an allem, was Menschen voneinander unterscheidet. Die Milieus sehnen sich nach Abgeschiedenheit. Im politischen Diskurs wird als Grund für Abgrenzungsfantasien oft das Grundbedürfnis des Menschen genannt, das ihn in Zeiten von politischer Unübersichtlichkeit nach Intimität und Geborgenheit streben lässt. Wenn es nichts nützt, den Menschen zu erzählen, was in der Historie ihrer Nationen geschah, nämlich vielfach Krieg und Zerstörung, weil sie sich nicht verbrüderten, dann sollte man klein bleiben und mit dem anderen, alten Konzept leben, nämlich der Vorstellung, dass jenseits aller Grenzen Fremde leben.
Selten wird bei der Problemlösung über das größte kulturelle Erbe der europäischen Völker gesprochen: über ihre Sprachen. Allein in der Union gibt es 24 Amtssprachen, dazu unzählige regionale Sprachen und die Sprachen der Minderheiten. Gemessen an der Vielfalt der Sprachen und der Zahl an übersetzten Literaturen und anderer Texte in den einzelnen Ländern gibt es jedoch eine enorme Diskrepanz. Die politischen Akteure kommen in ihren Parlamenten, Kongressen und Gipfeln zueinander und werden simultan für ein paar Stunden übersetzt. Aber die Völker?
Was um uns herum geschieht
Es gibt eine Menge Übersetzungen aus den romanischen Sprachen und dem Englischen, aber kaum aus den slawischen. Wie viel wurde in den letzten Jahren über die Migrationsströme der Roma gesprochen? Doch kaum jemand in Westeuropa ist in der Lage, eine bulgarische Zeitung zu lesen oder einen Autor, der in den Sprachen der Länder lebt, in denen Roma leben? Wenn wir keine bulgarische Zeitung lesen können, lernen wir nichts über Propaganda und Ausgrenzungspolitik, fällt es uns schwer, Empathie für die verfolgten Minderheiten zu entwickeln. Wenn wir keine griechische Zeitung lesen können, erfahren wir nichts über die unsagbaren nationalistischen und rassistischen Denkweisen in Teilen der Bevölkerung, aber auch nichts über den Widerstand der Intellektuellen, den es ebenfalls gibt.
In fast sechzig Jahren türkischer Einwanderung nach Deutschland hat es noch nie die Übersetzung eines Sachbuchs aus dem Türkischen ins Deutsche gegeben. Wie wollen wir die Diskurse über Gesellschaft, Religion und Politik verfolgen, wenn wir sie nicht lesen können? Und sind nicht genau diese Themen Demarkationslinien unserer inneren und äußeren Konflikte? Wenn wir nicht verfolgen können, wie Medien und Politik Juden in Ungarn systematisch stigmatisieren, wie wollen wir lernen und vermeiden, die Fehler der anderen zu machen?
Vielleicht haben die Bürger unserer Länder soviel Angst vor ihren Nachbarn innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen, weil sie keine gemeinsamen Sprachen haben, in denen sie voneinander berichten können. Als es darum ging, dass die vermögenderen Nationen den ärmeren Nationen helfen sollten, fiel das Wort „Solidargemeinschaft“. Ein Wort, wie gemacht zur Beschreibung des emotionalen Verhältnisses zwischen „uns“ Reichen und den „anderen“ hilfsbedürftigen Staaten.
Aus der Empathie und Freundschaft einschließenden Solidarität wurde ein technischer Begriff, der gerade noch soviel Gefühl zulässt, dass man zähneknirschend Gelder und Bürgschaften rausrückt. „Solidargemeinschaft“ klingt wie ökonomischer Knebelvertrag. Warum? Weil die Gelder an Völker fließen, über die wir nichts wissen, weil wir ihre Sprache nicht sprechen und nicht in der Lage sind, nachzuvollziehen, was mit ihnen geschieht. So sind wir angewiesen auf Korrespondentenberichte in Auslandsmagazinen, wo aufgebrachte Passanten während ihrer Demonstrationen auf der Straße Mikrofone unter die Nase gehalten bekommen.
Sprache aber dient nicht nur dem Senden von Informationen, sondern auch dem Austausch. Nur wenn wir mehr Übersetzungen fördern und gemeinsame Gremien und Institute schaffen, die sich für die Vielfalt und vor allem für die Übersetzung aus sämtlichen Sprachen in alle anderen Sprachen einsetzen, können wir verstehen, dass jenseits der Grenze kein Feind, sondern ein Freund wohnt. Das würde nicht alle Probleme lösen. Aber wir würden besser verstehen, was um uns herum geschieht.
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