Jazz-Klarinettist Rolf Kühn: Jedes Solo ein Drahtseilakt
Der Jazz hat ihn gepackt und nie mehr losgelassen: Rolf Kühn bleibt auch mit 87 Jahren Avantgardist an der Klarinette. Er sagt: „Ich habe noch nicht alles ausprobiert“.
„Mir geht’s prächtig“, sagt er und lacht und ist dann gleich im Jetzt. Besser gesagt: in der nahen Zukunft. Rolf Kühn, Klarinettist, seit Jahrzehnten Teil und Motor des modernen Jazz, bereitet sich gerade auf ein besonderes Konzert bei den Leipziger Jazztagen vor. Seine Band Unit, in der „Zeit“ als „Deutschlands ungewöhnlichste Jazzband“ tituliert, traf dabei am vergangenen Wochenende auf das Trio seines Bruders Joachim mit dem großen polnischen Trompeter Thomasz Stánko und der Cellistin Asja Valcic. Am Ende sollten alle zusammenkommen und da man auch neues Material spielen wollte, „muss ich heute Abend noch ein bisschen was schreiben“. Rolf Kühn ist 87 Jahre alt, wirkt aber zwanzig Jahre jünger. Seit sieben Jahrzehnten „schreibt er ein bisschen was“, übt jeden Tag zwei bis drei Stunden auf seinem Instrument, weigert sich beharrlich zurückzuschauen und sucht immer noch die Herausforderung, Neues zu entdecken.
Kühn wird 1929 in Köln in eine Artistenfamilie geboren. In Leipzig, die Stadt, die er „Hometown“ nennt, wächst er auf. Ab 1941 nimm er bei Hans Berninger, dem Solo-Klarinettisten des Gewandhausorchesters Unterricht. Bald schleicht er sich heimlich in die Wohnung des berühmten Mannes, denn die Familie wird von der Gestapo drangsaliert: Kühns Mutter ist Jüdin. Gegen Ende des Krieges entgeht sie knapp der Deportation. Rolf Kühn verdient erstes Geld als Musiker und Sargträger bei Beerdigungen, mit 17 ist er Profi im Rundfunk-Tanzorchester Leipzig, spielt Saxofon und Klarinette.
Ein ganz eigener Sound
Die heute sagenumwobene Pianistin Jutta Hipp – „eine bemerkenswerte Erscheinung: knallrote Haare bis zum Po, geschminkt wie heute Nina Hagen“, sagt Kühn lachend – hört den jungen Mann und findet, er spiele ja ganz ordentlich Klarinette, aber er solle sich doch mal Benny Goodman anhören. Auf einer so- genannten V-Disc aus US-amerikanischen Armeebeständen hört Kühn Goodmans Quartett. Von da an lässt ihn der Jazz nicht mehr los.
„Was Goodman und Artie Shaw in den dreißiger Jahren mit der Klarinette gemacht haben, was sie entwickelten war schon großartig. Und ich höre diese alten Aufnahmen immer noch gerne“, sagt Kühn voller Respekt. Zunächst kopiert er die Vorbilder – später sollte er in Goodmans Band spielen und zeitweise das Orchester leiten – und findet dann allmählich einen ganz eigenen Sound. Ihm, dem klassisch Ausgebildeten, gelingt der Wechsel zum Jazz. „Die Klassiker spielen das, was auf dem Blatt steht. Die Jazzer auch – aber es klingt anders.“ Er klingt anders, stets singt ein ferner Blues in seinem Spiel mit.
1956 geht Kühne nach New York
Ein Jazzmusiker ist eigentlich nur dann interessant, wenn er neben seinen technischen Fertigkeiten auch etwas zu erzählen hat. Ist sein Sound geprägt von der dramatischen Familiengeschichte? „Der Sound wohl nicht“, meint Kühn, „aber das Feeling, das da aus dem Instrument herauskommt, hängt sicherlich mit dieser nicht ganz einfachen Zeit zusammen, die wir durchmachen mussten.“
Neben Sound und Feeling zählt dann eben auch die Technik: „Mir war klar, dass ich mein Studium zu Ende bringen musste, um die Technik zu erlangen, das spielen zu können, was die Amerikaner drauf hatten. Die konnten alles. Und dadurch klangen sie so entspannt.“ Wie ein anderes Vorbild und später guter Freund Buddy DeFranco, der die technischen Herausforderungen der neuen Musik namens Bebop auf der Klarinette meistert. 1956 geht Rolf Kühn nach New York. Raus aus der deutschen Enge, hin zu den Meistern des Jazz. Stoff für einen Film. Der junge Mann spielt mit Größen wie Chet Baker, Cannonball Adderley, Ben Webster, Coleman Hawkins und Billie Holiday.
Mit Rolls Royce den Broadway runter
Kühn kann sich in der Jazz-Welthauptstadt etablieren, in der Ende der fünfziger Jahre rund 30 000 Musiker Arbeit suchen. Wilde Zeiten. Die unermesslich reiche Erbin Pannonica des Königswarter fördert mit ihrem Geld den modernen Jazz. „Sie hatte einen offenen Rolls Royce, und in dem fuhr man dann den Broadway rauf und runter.“ Heute sei kaum noch etwas übrig von der vitalen Club Szene in New York. Er spielt auch im Small’s Paradise, „im dicksten Harlem, das war für Weiße eine nicht ungefährliche Gegend". Der Club war voller Schlägertypen, schwer tätowierter Zuhälter, und manchmal kamen die Huren von der Straße hinein, um sich für fünf Minuten zu erholen.
Pete La Roca und Jimmy Garrison (später Bassist im legendären John Coltrane Quartett) bildeten die Rhythmusgruppe. Pianist John Bunch und Kühn waren die beiden einzigen Weißen. „Wenn diesen Typen musikalisch irgendetwas nicht gefallen hätte, dann weißt du das nach drei Minuten. Seine Band war für 14 Tage engagiert, am Ende wurden es vier Wochen. „Das sah ich persönlich als ganz große Auszeichnung an“, erinnert er sich lachend.
Boomende Musikszene in Berlin
Zurück in Deutschland entsteht zusammen mit seinem aus der DDR geflüchteten Bruder Joachim eine der wichtigen Ernergiezellen des modernen Jazz. Aufnahmen aus dieser Zeit klingen auch heute noch frisch und wichtig. Den ökonomischen Widrigkeiten, die dem Jazz damals bereits zusetzen, umgeht Rolf Kühn mit Arbeiten für Film und Theater, Jobs bei Rundfunkorchestern. Mit fast vierzig nimmt er ein Dirigentenstudium auf.
Der Jazz bleibt aber immer wichtig. In einem Alter, in dem andere nicht mehr können oder wollen, sucht er immer wieder nach neuen Aufgaben. Nimmt mit Ornette Coleman auf und schaut sich in der plötzlich boomenden Berliner Szene um. Zahlreich junge Musikerinnen und Musiker zieht es in den nuller Jahren in die Stadt. Darunter ist auch der blutjunge Wunderschlagzeuger Christian Lillinger, den Kühn für seine Band Unit verpflichtet. „Den habe ich nachts im Schwarzen Café in Charlottenburg getroffen. Mein Bruder hat ihn empfohlen.“
Der swingt wie verrückt
Lillinger, heute 32 Jahre alt, verströmt eine Energie, die selbst gleichaltrige Musiker in Schwierigkeiten bringen kann. „Aber der Junge swingt wie verrückt“, konstatiert Kühn. Seit acht Jahren lotet die Band aus, was man anstellen kann, mit dieser Musik namens Jazz. Das neue Album „Spotlights“ hingegen ist geprägt von ruhigen, geradezu intimen Begegnungen mit so unterschiedlichen Künstlern wie dem Oboisten Albrecht Mayer, dem brasilianischen Retro-Jazzrocker Ed Motta und Bruder Joachim. War nach all der Energie so etwas wie ein ruhiges Gegenprogramm fällig? „Gar nicht, nein. Ich wollte was Neues machen, nicht die zwanzigste Bigbandplatte oder so was. Ich wollte sehen, was ich noch herausfinden kann auf der Klarinette.“
Rolf Kühn ist 87 Jahre alt. Wie blickt er in die Zukunft? „Ich wäre sehr froh und sehr dankbar, wenn der energetische Punkt, die Neugierde so bleiben wie jetzt. Ich denke, ich habe noch nicht alles ausprobiert was möglich ist, und das steht mir noch bevor.“
„Spotlights“ von Rolf Kühn ist bei Edel/MPS erschienen. Die nächsten Konzerte sind in Salzburg (21.10.), Neuburg an der Donau (22.10.) und Köln (18.11.).
Andreas Müller
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