In der Debatte: Jakob Augstein, der radikale Gärtner
Er schaute aus seinem Zehlendorfer Fenster auf Bäume und Sträucher. Er fand sie hässlich. Also sägte er alles ab, was ihm missfiel. Ist dieser gärtnerische Eifer auch auf die Politik übertragbar? Jakob Augstein, „Freitag“-Verleger, versucht es und provoziert, wo er kann. Dabei möchte er kein Provokateur sein, sondern – angreifbar.
Unlängst konnten Jakob Augsteins Kinder ihren Vater bei einer Tätigkeit beobachten, der Familienväter nur ausnahmsweise nachgehen: Er stellte eine Wasserbombe her. Es ist ganz einfach: Luftballon am Wasserhahn befestigen und dann volllaufen lassen. Der Sohn des „Spiegel“-Gründers Rudolf Augstein, der in Wirklichkeit Martin Walsers Sohn ist und auf der Top-Ten-Liste der weltweit schlimmsten antisemitischen Äußerungen steht, weil er angeblich israelfeindliche Kommentare schrieb, befand, so eine Wasserbombe sei glatt und kühl und liege gut in der Hand. Bei normal ausgebildeter Schultermuskulatur fliege sie etwa 30 Meter weit. Wahrscheinlich hat er das ausprobiert, vielleicht in seinem eigenen Garten, wo sonst? Das Wasserbombenwerfen im öffentlichen Raum ist nicht konsensfähig, noch nicht. Aber genau darum geht es in Augsteins neuem Buch, er findet das gedankenlos.
Kritiker schütteln über „Sabotage“ fast einhellig den Kopf. Wie kann ein kluger Mensch auf das Wasserbombenwerfen als Ultima Ratio des Einspruchs gegen die Verhältnisse kommen? Ist das nicht, gelinde gesagt, dramatisch unterreflektiert? Selbst die Linken bekennen ihre Ratlosigkeit. Sie wähnten die linke Diskussion über Gewalt als Mittel der Politik für längst abgeschlossen, Befund: negativ. Was ist das für eine seltsame Vorhut einer Nachhut, die sich hier zu Wort meldet?
Jakob Augstein hätte die Wasserbombe gegen die alte Eibe in seinem Garten werfen können. Augstein hasst Eiben. Für ihn zählen sie zu den „düstersten und trübsinnigsten Gewächsen“, die sich in einem Garten denken lassen. Es muss sich demnach – in Augsteins Sicht – um eine Art Angela Merkel unter den Bäumen handeln. Allerdings konnte er die Wasserbombe nicht mehr gegen die Eibe werfen, denn er hatte sie schon gefällt. Das steht alles in seinem vorletzten Buch, es heißt „Die Tage des Gärtners“ und handelt von Augstein und seinem Garten, in dem nun alle Eiben fehlen. Und die Kiefern auch. Es ist trotzdem ein sehr schönes Buch. Aber man findet in ihm keinen Hinweis, wohin er die Wasserbombe gezielt haben könnte. Was machst du da?, könnten ihn seine Kinder gefragt haben. Ich recherchiere für mein neues Buch!, hätte er antworten müssen.
Denn die Wasserbombe war ohnehin nur ein Zwischenschritt, in Wahrheit ging es dem Verleger und Chefredakteur der Wochenzeitung „Freitag“ um eine Wasserfarbbombe, und er hat in seinem Badezimmer lange darüber nachgedacht, wie Ballon und Farbe am besten zusammenzubringen sind. Augsteins Küche und Bad befanden sich am Ende in einem Zustand, wie man ihn auf einem aus der Kontrolle geratenen Kindergeburtstag vermutet, und doch war der Experimentator am Ende sehr zufrieden. Er beschreibt diesen Gemütszustand so: „Man muss einfach die Farbe in sehr konzentrierter Form in den Ballon bringen, träufeln oder spritzen, wie man mag. Dann den Ballon am Wasserhahn befüllen, verknoten, gut schütteln – fertig. Jetzt sind Sie bereit für die politische Auseinandersetzung.“ So endet der Prolog zu „Sabotage. Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen“. Sollten wir uns Sorgen machen um den Autor?
Die Redaktion des „Freitag“ befindet sich am Berliner Hegelplatz 1. Wer hineinwill, muss an einer großen Hegel-Büste vorbei. Weltumgreifend, weltrichtend schaut der Philosoph vom Sockel. Der ist einmal mit der Einschätzung aufgefallen, das Wirkliche sei vernünftig und das Vernünftige sei wirklich – zwei Aussagen, die Jakob Augstein nun wirklich nicht teilen kann. Dafür würde Hegel im „Freitag“-Herausgeber bestenfalls einen Spezialfall des von ihm analysierten „unglücklichen Bewusstseins“ erblicken.
Wenn man Jakob Augstein mit einem Wort beschreiben müsste, dann wäre das „mittig“. Mittiger als er kann man gar nicht aussehen, mittiger kann man nicht sprechen. Zumindest was den Tonfall angeht. Hinter dem Empfangstresen des „Freitag“ hängt eine Weltkarte, sie drückt aber nicht direkt das Verbreitungsgebiet seiner Zeitschrift aus, die in der DDR noch „Sonntag“ hieß, sondern verzeichnet vielmehr die Verteilung der Massenvernichtungswaffen auf der Erde. Ja, der „Freitag“ ist eine sehr linke Zeitschrift, also eine mit Gewissen. Seit Januar ist Augstein auch Chefredakteur des Periodikums, das er im Mai 2008 kaufte.
Für das Zimmer eines Verlegers und Chefredakteurs ist das seine betont klein, vom Balkon aus fällt der Blick auf eine große Dachamphore der Universität, an der Hegel seine großen Vorlesungen gehalten hat. In Napoleon erkannte er einst den Weltgeist zu Pferde. Aber was hätte er zu Angela Merkel gesagt?
Jakob Augstein wird geradewegs zum Philosophen, wenn er sie beschreibt: „Gäbe es sie nicht, würde man sie nicht für möglich halten. Die reine Substanz der Macht. Sie ist eine beinahe surreale Erscheinung. Ihr eigenes Gespenst. Ohne Attribute, ohne Prädikate.“ Kurz, das Ens realissimum der deutschen Politik.
Ja, gesteht Augstein zu, ohne die Kanzlerin hätte er das Buch nicht geschrieben. Es mache ihn immer wieder fassungslos, wie sie da mit „Gestus, Stimme und Wortwahl einer Diensthabenden in einem Heim für betreutes Wohnen“ spreche. Und es sei jedes Mal wieder unmöglich, sich zu merken, was sie gesagt habe. Ihr Kompass weise immer dorthin, wo das nächste Ziel liegt. Die Kanzlerin ist für Jakob Augstein eine Quelle unendlicher Inspiration, obwohl er darauf besteht, niemanden zu kennen, den er für weniger inspirierend halte.
Jedes Land hat die Politiker, die es verdient? Für Peer Steinbrück braucht Augstein nur zwei Sätze: Es gebe Kandidaten, die verlören die Wahl. Aber es gebe auch solche, die verlören schon die Kandidatur.
Eigentlich müsste der Journalist Jakob Augstein den deutschen Verhältnissen dankbar sein. Je trauriger die Wirklichkeit, desto besser die Pointen des Autors. Natürlich ist er nicht der Erste, der das alles bemerkt. Aber wenige haben es so gewinnend formuliert wie er. Er könnte es dabei belassen. Es wäre so viel einfacher. Er wäre viel unangreifbarer. Oder hätte er gleich statt „Sabotage“ die Fortsetzung seines Gartenbuches schreiben sollen?
Täuschen Sie sich bloß nicht, auch „Die Tage des Gärtners“ sind ein radikales Buch, erklärt Augstein, als könnte er Gedanken lesen. Es handele sich beim Gärtnern gewissermaßen um eine nach innen gerichtete Radikalität. Vielleicht, weil die Radikalität ohnehin ein gärtnerischer Begriff ist? Radix, Wurzel. An die Wurzel gehen. Etwas an der Wurzel packen. Oder es mit der Wurzel ausreißen.
So kann das nicht bleiben, hatte er jedes Mal gedacht, wenn er aus dem Fenster seines Zehlendorfer Hauses in seinen traurigen Garten schaute. Also ging er eines Tages runter und riss alles raus, sägte alles ab, was ihm missfiel. Inzwischen hat Jakob Augstein den Garten, den er sich immer gewünscht hat. Warum kann das mit der Gesellschaft nicht ebenso sein?
Aber schon die Ausgangslage differiert: Eine Tulipa greigii ist eine Tulipa greigii, und eine Anemone hupehensis ist eine Anemone hupehensis. Darauf ist Verlass. Aber das Grundproblem der Gegenwart, sagt Augstein, besteht darin, dass die Dinge nicht mehr so sind, wie sie heißen. Wir redeten täglich von Demokratie, lebten in Wahrheit aber schon in einer Postdemokratie, einer Fassadendemokratie. So entstehe eine kognitive Dissonanz, und die führe zu gesellschaftlichem Irresein.
Jakob Augstein trägt eine blaue Jacke mit Schulterstücken, dezent angelehnt an die blauen Einheitsarbeitsanzüge der Chinesen unter Mao. Gleicher konnte man nicht sein als in solchem Blau. Aber ihn macht dieses Kleidungsstück nicht unkenntlich, im Gegenteil. Natürlich unterhalten Linke wie er ein bevorzugtes Verhältnis zum Gleichheitsgedanken. Doch er bleibt auf kluge Weise gelassen: „Die Menschen sind gleich, weil sie Menschen sind, und ungleich, weil sie Individuen sind. Sie sind gleich und ungleich. Das spüren wir alle.“ So sollte man am Hegelplatz 1 denken. Das ist Dialektik.
Den Gartenzwerg konnte er unmöglich in seinen Garten stellen, diesen Pazifisten.
Eine Sache nicht in ihrem ideologieverdächtigen Entweder-Oder, sondern in ihrem Widerspruch betrachten. Hier würde der Philosoph unten auf dem Sockel zustimmen, vielleicht auch zu Augsteins Vermutung, dass die Gleichheit eine Kategorie der Nähe sei. Und zu seinem Verdacht, nicht jede Ungleichheit sei gleich unerträglich: „Die Leute suchen nicht nach Gleichheit. Sie suchen nach der Gerechtigkeit in der Ungleichheit.“
Gerechtigkeit also. Wenn wir nicht wüssten, was die Zukunft bringt, wäre unser Interesse an Gerechtigkeit sehr groß, schon weil wir nicht wüssten, ob wir nicht selbst davon profitieren würden, wenn die Verhältnisse gerecht wären, glaubt Augstein mit dem amerikanischen Philosophen John Rawls. Ein ebenso einfacher wie bezwingender wie rein hypothetischer Gedanke. Denn unsere Herkunft, gerade in Deutschland, souffliert ziemlich zuverlässig, was die Zukunft uns bringt. Ökonomen fassen Menschen, denen sie höchstwahrscheinlich nichts bringen wird, bündig in der Kategorie „Surplusbevölkerung“ zusammen. Es gibt eine Form von Sachlichkeit, die von Zynismus fast nicht zu unterscheiden ist. Oder sollte man vom Zynismus der Sachlichkeit sprechen?
Menschen, die daran nicht hellhörig werden, die sich ihr Entronnensein gar als Verdienst anrechnen, leben einfacher. Warum macht dieser Mann sich so angreifbar? Journalisten machen das gewöhnlich nicht. Genauso wenig wie Philosophen. Der dort unten auf dem Sockel hat wie keiner vor ihm demonstriert, was es heißt, sich zugleich in, vor allem aber über den Dingen aufzuhalten. Und ein kleiner Hegel steckt noch in jedem Journalisten.
Augsteins Buch ist über weite Strecken auch Kritik seines Berufsstands. Fremdheit sei die größte Tugend des Journalisten, leider eine beinahe verlorene, zu oft seien Journalisten nur noch Moderatoren der Macht und wirkten systemstabilisierend, statt ebendieses System infrage zu stellen.
Und die Linken oder die einst Linken? Wenn ein deutscher Sozialdemokrat am Morgen aufstehe, sage er sich vor dem Spiegel, dass Wahlen in der Mitte entschieden werden, vermutet Augstein. Er selbst glaubt das nicht. Er glaubt, dass die SPD sich selbst als Geisel genommen habe und jede Verhandlung über ihre Freilassung standhaft ablehne. Als stünde in ihrem Parteiprogramm die Präambel: „Lieber tot als rot.“
Jakob Augstein glaubt überhaupt nicht an Mitten, schon gar nicht in der Politik. Sie seien allenfalls ein theoretischer Punkt, praktisch gesehen aber ein „schwarzes Loch“, gerade für die Politik.
Ist das schon ein Plädoyer für die Ränder? Jakob Augstein schaut aus seinem Redaktions-Loftfenster direkt auf die große griechische Amphore auf dem Dach der Humboldt-Universität. Eine Büchse der Pandora? Diese Büchse war noch nie eine Büchse, sondern genau eine solche Amphore, alle Güter des Lebens bergend – Oliven und Wein – oder aber, in Pandoras Fall, alle Übel. Wer Augstein zuhört oder sein Buch liest, meint zu wissen: Das Gefäß ist längst umgekippt, es ist offen.
Augstein ist ein Sonderfall unter den Journalisten. Es geht ihm nicht darum zu provozieren. Das Provozieren ist heute eine Tätigkeit der Mitte. Er möchte etwas anderes, er möchte angreifbar sein. Er setzt sich aus.
Angreifbarkeit ist eine Form von Leibhaftigkeit. Das Piraten-Konzept der „Plattformneutralität“ hält er für fatal. Politik wandert aus ins Netz? „Ohne den Körper fehlt der Politik etwas. Das letzte Argument. Der höchste Einsatz.“ Er ist das letzte Kapital derer, die Ökonomen eben gern Surplusbevölkerung nennen. Augstein, der Philosoph. Aber Philosophen haben gemeinhin ein vorbehaltvolles Verhältnis zur Praxis. Philosophen werfen auch keine Farbbomben. Oder doch? Nur sind sie dann keine Philosophen mehr. Augstein ist das egal.
Auf dem kleinen Balkon des Chefredakteurs steht ganz allein, ohne eine Blume weit und breit, ein Gartenzwerg mit knallroter Mütze. „Das ist ein Geschenk von ,Landlust’“, erklärt Augstein, „für mein Gartenbuch.“ Das Magazin „Landlust“ habe es in den Mainstream geschafft, rein auflagenmäßig. Er wäre auch so gern Mainstream, linker Mainstream. Natürlich konnte er den Zwerg unmöglich in seinen Garten stellen. Also Verbannung auf den Balkon. Man mag viel zum Nachteil der Gartenzwerge vorbringen können, aber gewaltbereit sind sie nicht. Es herrscht also eine gewisse kognitive Dissonanz zwischen dem Mann drinnen und dem Pazifisten auf dem Balkon. Augstein könnte ihm mit dem Friedensforscher Johan Galtung erklären, dass es sich bei seiner Gewalt gegen Sachen ohnehin bereits um Gegen-Gewalt handele. Denn Gewalt liege immer dann vor, „wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potenzielle Verwirklichung“. Man muss das aber nicht „strukturelle Gewalt“ nennen, man könnte einfacher auch „Leben“ sagen. Es ist so.
„Sabotage“ trägt den Untertitel „Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen“. Klingt ein wenig wie „Freiheit oder Sozialismus“, nicht gerade nach faltenreichem Verstand. Der Chefredakteur lehnt sich weit zurück, um seinen Titel dann entschlossen zu verteidigen: „Dass Demokratie und Kapitalismus zusammengehören, ist schließlich das Dogma, mit dem wir aufgewachsen sind. Und es ist falsch.“
Augstein muss nun nach seiner Zeitung sehen, der neue „Freitag“ geht gleich in Druck. Er hat eine Auflage von 15 000, Tendenz steigend, aber Minus macht er noch immer.
Herr Augstein, stehen Sie eigentlich immer noch auf der Liste mit den zehn gefährlichsten antisemitischen Äußerungen?
Natürlich, antwortet er schon im Gehen, da bleibt man ein ganzes Jahr drauf. Wer weiß, auf welchen Listen er jetzt noch steht.
Erschienen auf der Dritten Seite.