Filmfest Venedig (7): Jackie Kennedy - Ikone mit menschlichem Antlitz
Später Höhepunkt des Filmfests: Natalie Portman spielt Jackie Kennedy in Pablo Larraíns Drama „Jackie“.
Er wollte die Kamera so nahe wie möglich, sagt Regisseur Pablo Larraín („No“, „El Club“) in Venedig. Und immer noch näher – was sich nicht ziemt bei einer First Lady. Von diesem Widerspruch lebt „Jackie“. Wie wahrt die US-Präsidentengattin ihre Würde, wenn ihr Mann direkt neben ihr erschossen wurde, im offenen Wagen in Dallas? Ihr blutverschmiertes Chanel-Kostüm zieht Jacqueline Kennedy nicht aus, sie wechselt die Kleidung auch nicht bei der raschen Vereidigung des nächsten Präsidenten an Bord der Air Force One.
Natalie Portman ist Jacqueline Kennedy. Eine Königin, eine Ikone, eine Erscheinung – und „Jackie“ der späte Höhepunkt des Filmfests. „13 Stunden in der Sonne, wir sterben für dich“, haben die Autogrammjägerinnen auf ein Schild geschrieben. Ovationen, Hysterie, am Lido wird die 35-jährige Schauspielerin gefeiert wie kein anderer Star.
Im Zentrum: die einsamste Frau der Welt. Jackie allein in der Nacht, wie sie sich die blutigen Nylons von den Füßen zieht. Jackie mit ihrer Assistentin Nancy (Greta Gerwig). Jackie, wie sie das Staatsbegräbnis in Washington organisiert und den Auszug aus dem Weißen Haus, ihren letzten Amtsakt. Ich mache nur meinen Job, sagt sie, als Kennedys Witwe, als Mutter der Nation. Sie besteht auf einer Prozession wie einst bei Lincolns Beerdigung, die Staatsmänner sollen zu Fuß hinter dem Sarg hergehen, allen Sicherheitsbedenken zum Trotz. Sie geht aufrecht, trägt ihre Kleider und die akkurate Frisur wie eine Uniform. Eine schmale, unbeirrbare Person, eine vom Schmerz zerrissene Frau, die nicht aus der Rolle fällt.
Der Chilene Larraín umgibt sie mit Architekturen der Macht, im Oval Office, vor den Säulen des Präsidentensitzes, vor den Baumalleen auf dem Friedhof. Als nähme sie unentwegt Paraden ab. Es sei gefährlich gewesen, Jackie zu spielen, sagt Portman in Venedig, jeder glaube, sie zu kennen. Sie selber habe sich lediglich Jacqueline Kennedys legendäre TV-Führung durchs Weiße Haus angesehen, auf YouTube kann man es nachschauen: Wie die First Lady die Kennedys in die amerikanische Geschichte einschreibt, Gemälde und Möbel als Interieurs einer kultivierten, zivilisierten Nation vorführt. Eine meisterliche Symbolpolitikerin. Nach dem Attentat macht sie sich die Legende JFK zur Aufgabe.
Das Drehbuch von Noah Oppenheim beschränkt sich klug auf die vier Tage im November 1963 zwischen Ermordung und Beerdigung und fügt als Rahmen nur Jackies berühmtes, eine Woche später geführtes „Life“-Interview sowie ein fiktives Gespräch mit dem Priester der Trauerzeremonie hinzu. Den feinen Registerwechsel zwischen Jackies privater und öffentlicher Stimme beherrscht Natalie Portman perfekt, auch die ironisch intonierte Autorität, mit der sie noch die Notizen des „Life“-Reporters korrigiert. Der Darstellerinnenpreis bei der Gala am Sonnabend dürfte ihr sicher sein. Und wohl auch der Oscar: Die Amerikaner mögen Ikonen mit menschlichem Antlitz.
Christiane Peitz