Mein Europa: Internationale der Nationalisten
Ein Jammerjubellied auf unseren seltsamen Kontinent von Josef Haslinger.
Wenn von Europa die Rede ist, bricht der Katzenjammer aus. Die einen jammern, weil sie um ihre gewohnten Anblicke fürchten. Dass Slowenen, Ungarn, Slowaken und Tschechen nicht mehr als richtige Ausländer gelten, sind Entwicklungen, die für Österreicher das Rad der Geschichte um 100 Jahre zurückzudrehen scheinen. Wozu haben unsere Väter, Großväter und Urgroßväter eigentlich gekämpft, und wozu hat Jörg Haider Ortstafeln versetzt? Die Angst vor dem Neuen ließ sich immer schon zu einem Wahn hochstilisieren, der sich in nächster Zeit als Begleiterscheinung der Finanzkrise gewiss neu ausbreiten wird.
Im europäischen Parlament halten die Europa-Feinde Einzug, und wir könnten bald vor der paradoxen Situation stehen, dass eines der wichtigsten Einigungsmerkmale der Europäer darin besteht, dass sie Europa hassen. Aber selbst wenn das EU-Parlament zu einer internationale der Nationalisten wird, wäre das immer noch himmelweit von jenen Aktivitäten entfernt, mit denen die Nationalisten des 20. Jahrhunderts ihre Träume zu verwirklichen pflegten.
Neuerdings ist allerorten ein seltsames Gezirpe vernehmbar, das die europäischen Politiker aufschreckt: das Gejammer jener Investmentgruppen, die im populären Sprachgebrauch Heuschrecken heißen. Sie könnten eigentlich damit zufrieden sein, dass die Banken in Prag, Budapest und Bukarest mittlerweile vertraute westeuropäische Namen tragen. Sie könnten mit Genugtuung zurückblicken auf ein Jahrzehnt, in dem sie dem Sparbuchkunden eine Verzinsung von zwei bis drei Prozent, sich selbst aber eine Rendite von 15 bis 20 Prozent gönnten. Anstatt dankbar dafür zu sein, dass sie ein Jahrzehnt lang die Weiden abgrasen durften, jammern diese Wanderheuschrecken nun und erwarten vom europäischen Steuerzahler nichts Geringeres, als dass er das von ihnen ratzeputz kahlgefressene Land neu bepflanzt.
Und so bin ich schließlich bei der vierten Sorte von Jammerern angekommen, bei jenem Chor, dem ich selbst von Zeit zu Zeit meine Stimme leihe. Die sind es leid, dass sich die Organisation der gemeinsamen Warenwelt derart in den Vordergrund gedrängt hat, dass Europa heute vor allem den Bedürfnissen der Geschäftemacher gehorcht. Die sind es leid, dass seit dem 1. November 1993, dem Tag, an dem der EU-Vertrag in Kraft getreten ist, dieses Europa nicht als gemeinsames Projekt für alle europäischen Menschen verstanden wird, sondern den Mitgliedstaaten dazu dient, wirtschaftliche Vorteile und politische Posten herauszuschlagen.
Bei diesem Gerangel hat sich ein beachtliches europäisches Haupt herausgebildet, das sich jedoch gerne bedeckt hält. Denn nicht erst seit der Osterweiterung leidet der europäische Körper an einer dysfunktionalen Störung: Die Glieder meinen, sie müssten das Haupt bekämpfen.
Und doch hat sich etwas Gewaltiges verändert. In den sechziger Jahren machte mein Vater mit uns Kindern einen Ausflug, um uns den Eisernen Vorhang zu zeigen. Wir mussten nicht einmal 25 Kilometer fahren, dann standen wir unweit von Gmünd auf einem Feldweg und blickten zu einem Wachturm. Da drüben, sagte er, ist eure Großmutter geboren. Mein Vater hielt sich einen Feldstecher vor die Augen. Der Tscheche schaut uns an, sagte er. Sicher ist er bewaffnet. Ich bekam es mit der Angst, stieg ins Auto und duckte mich.
Zwanzig Jahre später, Anfang der achtziger Jahre, fuhr ich mit dem Zug von Wien über Prag nach Berlin. Durch die Abteile strömten Heerscharen von Uniformierten, mit Fahndungsbüchern, Stempelkissen, Leitern, Spiegeln und Taschenlampen. Sie inspizierten nicht nur die Papiere der Reisenden, sondern auch alle Hohlräume des Zuges. Als sie abgezogen waren, ging ich in den Speisewagen. Der Kellner steckte den Fünfzig-Schilling-Schein, mit dem ich meinen Kaffee bezahlen wollte, in die Hosentasche und brachte mir als Wechselgeld zwei Flaschen Bier und zwei Limonaden.
Während ich bei einer Zigarette mein umfangreiches Trinkprogramm in Angriff nahm, zogen draußen riesige Buchstaben vorbei, die auf Hausdächern und in Wiesen gepflanzt waren. In der CSSR verstand ich nur das Wort socialistický. Nördlich von Bad Schandau konnte ich dann ganze Sätze verstehen: „Alles für das Wohl des Volkes und den Frieden“. Mein Waggon machte dazu derartige Freudensprünge, dass der Kaffee aus der Tasse schwappte und der Deckel des Aschenbechers ein ums andere Mal zuklappte.
Heute bin ich auf dieser Strecke, zwischen Wien und Leipzig, Woche für Woche unterwegs. Zwar ist die Eisenbahn nach Prag noch nicht ganz so schnell wie der legendäre Expresszug in der Monarchie es war, aber der Kaffee schwappt nur noch selten aus der Tasse und die Aschenbecher sind gleich ganz verschwunden. Wenn mir gerade danach ist, steige ich in Prag aus, um mit der Schriftstellerin Radka Denemarková einen Mokka zu trinken, oder ich treffe in Brünn, der Geburtsstadt meines Großvaters, Jirí Kamen, oder ich komme in Ölmütz im Café 87 mit einer seltsam aufgeregt redenden slowakischen Studentin ins Gespräch, die ihr Deutsch beim jahrelangen Schauen von RTL2 gelernt hat.
Und wenn ich dann zur Abwechslung mal mit dem Auto unterwegs bin, und es stellt sich bei einer Routinekontrolle heraus, dass ich meinen Personalausweis vergessen habe, kostet mich das nur eine Verwaltungsstrafe von 30 Euro. Aus meinem Führerschein, sagt der Beamte, gehe leider nicht meine Staatsbürgerschaft hervor. Wie soll denn auch ein tschechischer Polizist an meinem Gesicht ablesen können, ob ich wirklich ein Europäer bin und nicht doch vielleicht ein Fremder?
Josef Haslinger lebt als Schriftsteller in Wien und Leipzig. Zuletzt erschien von ihm „Phi Phi Island“. Der Text ist ein gekürzter Beitrag der Reihe „Mein Europa“ des Deutschlandfunks im Vorfeld der Europawahlen. Die Beiträge sind bis 5. Juni täglich zu hören, außer sonn- und feiertags ab 9.10 Uhr und auf www.dradio.de
Josef Haslinger
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