Chicago: Inszenierte Harmonie als Kabinettstück
Sichtachsen durch die Kunstgeschichte: Renzo Pianos luftiger Museumsbau in Chicago.
Bislang war der Publikumsmagnet des Art Institute in Chicago die düstere, verloren-melancholische Szenerie von vier Menschen in einem Diner. Edward Hoppers „Nighthawks“ gilt als das populärste Werk des Museums. Doch seitdem Renzo Pianos strahlend weißer Erweiterungsbau an der Nordseite des Beaux-Arts-Kolosses aus dem Jahr 1893 eröffnet wurde, strömen die Besucher in noch größerer Zahl in die neueste architektonische Attraktion der Stadt. Chicago hat damit für die riesige Kunstsammlung des Museums einen fulminanten zusätzlichen Ausstellungsort gewonnen. Rund 300 Millionen Euro kostete der komplett privat finanzierte Neubau, der das altehrwürdige Haus um 24 000 Quadratmeter erweitert. Damit ist es nach dem Metropolitan Museum in New York zum zweitgrößten Museum der USA geworden.
Licht, elegant und in einer bei sonnigem Wetter gleißenden Transparenz präsentiert sich der Piano-Bau aus Stahl, Glas und Beton. Aus den gleichen Materialien formten Frank Lloyd Wright und Mies van der Rohe Anfang des 20. Jahrhunderts die Metropole der Moderne am Michigansee. Ihre Wolkenkratzer rahmen den Modern Wing mit atemberaubender Wucht ein. Direkt gegenüber dem separaten Eingang, im Millennium-Park, schillert Frank Gehrys Pritzker-Pavillon silbrig im Licht, ein funkelnder Solitär zwischen Hochhausskyline und Modern Wing. Der Standort des Museums am Rande des Stadtzentrums, unweit von Einkaufsmeile, Finanzdistrikt und See, bezeugt die Bedeutung, die Chicago der Kunst schon früh zusprach.
Der Bau wirkt wie die konsequente Fortentwicklung von Pianos europäischen Museumsbauten: dem technoiden Pariser Centre Pompidou und der klassischen Fondation Beyeler bei Basel. Bei seinem neuesten Wurf gilt allerdings das Hauptaugenmerk des Architekten dem größtmöglichen Einsatz von Tageslicht zur Beleuchtung der Kunstwerke. In Chicago erreicht er dies durch ein filigranes, auf den Gebäudekubus aufgesetztes Glasdach, das vom dritten Stock aus dezent gefiltertetes Licht einfallen lässt und einen hohen Innenhof erhellt. Glasfassaden an Kopf und Ende des Gebäudes sorgen für weiteres Licht. Scheint die Sonne zu hell, fahren automatisch transparent-weiße Stoffrollos vor die Fenster, bei dunklen Lichtverhältnissen kommt ein LED-gestütztes Beleuchtungskonzept zum Einsatz.
Durch neueste Niedrigenergietechnik reduziert sich der Verbrauch des New Wing um fünfzig Prozent gegenüber dem doppelt so großen Altbau. Im Zeitalter der Event-bezogenen Kunstrezeption hat Piano auch das leibliche Wohl berücksichtigt: Auf dem Dach des Modern Wing wird den Besuchern in spektakulärem Ambiente „Fine Dining“ – sehr gutes und entsprechend teures Essen – mit anschließendem Verdauungsspaziergang über einen filigranen Skywalk in den Millennium-Park geboten.
Vom Innenhof gehen in den drei Stockwerken ineinander verwobene Galerien ab, allesamt nach Mäzenen benannt. Die Gespräche der Besucher gehen sogleich in andachtsvolles Flüstern über, das den Eindruck einer Mischung aus Kathedrale und Luxus-Showroom umso mehr betont. Gleich hinter dem obligatorischen Museumsshop öffnen sich die Abott Galeries für aktuelle Ausstellungen. Bis Mitte September wird darin Cy Twombly mit seinen kräftigfarbigen, großformatigen Arbeiten zum Thema Natur präsentiert.
Von innen gewinnt der Besucher durch die drei Stockwerke hohe Glasfassade faszinierende Sichtachsen. Im dritten Stock mit Werken der europäischen Moderne tritt eine Picasso-Plastik vor dem Richard J. Daley-Center mit den Hochhäusern am Millenium-Park in einen postmodernen Dialog, im zweiten Geschoss spiegelt sich in den kalkweißen Gemälden von Robert Ryman die Skyline. Als Kontrast zu so viel inszenierter Harmonie wirkt das durchdringende Geschrei der Video-Installation „Tortured Clown“ von Bruce Nauman.
Piano hat mit seinem New Wing ein überzeugendes Konzept geliefert, das durch seine Beschwingtheit der Begegnung mit Kunst von Picasso, Matisse, Beckmann, Pollock oder Richter einen großartigen Rahmen liefert. Und doch gibt es auch die andere Seite: In seinem Herzen verbirgt der dritte Stock ein dunkles Kabinett mit surrealistischen Exponaten: die wundersame Welt des Joseph Cornell, frühe Arbeiten von Dalí, Schwitters und Tanguy. Ein kleiner Abstecher vom Lichten ins Dunkle, auch das ist möglich im Modern Wing. Franz Michael Rohm
www.artinstituteofchicago.org
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