Geisteswissenschaften an der Barenboim-Said Akademie: Innerer Resonanzraum
Parallel zum musikalischen arbeitet ein intellektuelles Orchester.
Wer es an die Berliner Barenboim-Said Akademie geschafft hat, ist an einen einzigartigen Ort gelangt. Künstlerisch wie weltpolitisch und diplomatisch ist das Konzept dieser privaten Musikhochschule visionär. Hier musizieren und diskutieren seit einem Jahr 57 Studierende aus dem Nahen Osten, Juden, Moslems, Christen aus Israel, Palästina, Syrien, Jordanien, dem Iran, Ägypten und der Türkei. Beworben haben sie sich Anfang 2015 beim Vorspielen in Ramallah, Jerusalem, Kairo, Beirut und Amman. In Berlin erhalten sie exzellenten Instrumentalunterricht, und – das gehört zu Daniel Barenboims wichtigstem Anliegen – lernen die Grundlagen von Philosophie, Literatur und Geschichte kennen.
Musik braucht einen Resonanzraum, auch im Inneren des Künstlers, davon ist Barenboim überzeugt. Ohne ein „reiches inneres Leben“, hat er gesagt, könne man kein Künstler sein. Und dazu muss man etwas wissen von der Welt, sich mit ihr auseinandersetzen. Neben den Musiklehrern gibt es ein kleines, feines Programm für Geisteswissenschaften (Humanities), geleitet von der in Harvard ausgebildeten Professorin Roni Mann, begleitet von Peter Jelavich als Professor für Geschichte und Jeffrey Champlin, der Literatur unterrichtet. Yael Almog wird als Professorin Sozialwissenschaften lehren.
„Es ist unglaublich, wie gut die Musiker auf unser Programm ansprechen“, freut sich Roni Mann, „unglaublich, mit welcher Offenheit sie lernen, wie sehr sie bereit sind, einander im Austausch zu begegnen, den Horizont ihrer jeweiligen Identität zu transzendieren.“ Genau das ist es, was sich Barenboim als Frucht seiner Akademie erhofft – dass die Studierenden als weltoffene, reflektierte Menschen die Jahre hier absolvieren, um überall da als Botschafter dieser Oase der Versöhnung zu wirken, wo sie später an Hochschulen und Orchestern professionell tätig sein werden.
"Wir ent-andern den Anderen"
Roni Mann weiß, dass die an der Akademie erwartete Art des Reifens und der Transformation einiges an Voraussetzungen braucht, wofür sie sorgt: „die geeigneten Inhalte, ein gutes Unterrichtsklima, ein starker Gruppengeist der Studierenden.“ Ein ganzes Philosophie- oder Literaturstudium könnten Musikstudenten, die vier bis sechs Stunden am Tag üben und noch musikwissenschaftlich unterrichtet werden, kaum bewältigen. Ziel des Programms ist es, dass die Studierenden aus der Lektüre Fragen und Gedanken entwickeln, die sie zum lebenslangen Lernen inspirieren. So lesen und debattieren sie Passagen von Heraklit, Plato, Aristoteles, von Kant und Hegel, Nietzsche und Simone de Beauvoir und Hannah Arendt. Gelesen werden auch Goethe, Shakespeare und nicht-westliche Autoren wie der persische Lyriker und Mystiker Dschalaluddin Rumi aus dem 13. Jahrhundert.
„Mit am wichtigsten sind für uns immer wieder die Werke von Martin Buber“, betont Roni Mann. Der große jüdische Gelehrte war ein unermüdlicher Verfechter des Prinzips des Dialogischen, sein Hauptwerk „Ich und Du“ geht von der Erkenntnis aus, dass sich Ich-Identität überhaupt erst am Anderen, am Du spiegelt und entwickelt. „Wir ent-andern den Anderen“, fasst Roni Mann kurz zusammen. Selbstverständlich spielen auch die Arbeiten von Edward Said, darunter seine berühmte Studie „Orientalism“ eine große Rolle im fortgeschrittenen Lehrplan. Saids Humanismus ist aber auch durchweg im Spirit der Hochschule präsent, erklärt Roni Mann, „indem bei uns die Trennwände fallen, die uns als Gruppen separieren, indem wir die Fähigkeit schulen, aufmerksam zuzuhören, und bewusst eine Perspektive des intellektuellen Exils wählen: Wir müssen uns außerhalb unserer selbst begeben, um den Anderen, die Anderen wahrzunehmen.“
Alles darf hier zur Sprache kommen
Weit gesteckt sind die Ziele der Akademie, sinnstiftend und persönlichkeitsbildend. „Uns geht es darum, den Studierenden ein solides Fundament zu schaffen, das ihnen Selbstvertrauen, Wissen und intellektuelle Sicherheit vermittelt, so dass sie sich komplexen Diskussionen gewachsen sehen, und sich nicht unter einer Glasglocke der Musiksphäre einrichten, und auch an aktuellen Debatten teilhaben können.“ Daher hat Roni Mann das Seminar „Globale Themen“ ins Leben gerufen, wo auch soziale und politische Inhalte der Gegenwart behandelt werden. Am Ende seines Studiums verfasst jeder, der hier Geige, Cello, Klavier oder Posaune lernt, auch einen Aufsatz zu einem selbst gewählten und erarbeiteten Thema in den Humanities.
Roni Mann, die in Harvard gelehrt hat, ist beglückt von der Lebensmusikalität der hier Studierenden. Da sie Musiker sind, bringen sie bereits einen hohen Grad an Verantwortung für ihre Aufführungen mit, für Ton, Klang, Zusammenspiel. „Neu und manchmal auch beängstigend ist es für sie, dass man ebenso viel Verantwortung in anderen, kreativen Bereichen trägt, im Lesen, Sprechen, Schreiben, beim Entfalten und Legitimieren normativer Argumente, beim Entwickeln sozialer Forderungen.“ Aber, sagt Mann, gerade dabei erfassen viele besonders schnell, wie innerlich und sozial bereichernd diese Transformation sein kann.
Auch vor kontroversen, schwierigen Problemen muss keiner in einem solchen Klima ausweichen. „Wir widmen uns, ganz in Anlehnung an den Impetus des West-Östlichen Divan Orchesters, auch Fragen der globalen Gerechtigkeit.“ Alles darf hier zur Sprache kommen, neben und mit der Musik. Die Barenboim-Said-Akademie scheint eine aus der Zukunft in die Gegenwart verpflanzte Oase. Probeweise wird hier eine künftige, mögliche Zeit der Versöhnung vorweggenommen und gezeigt, was möglich ist, wenn der Wille existiert.
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