Laniers Buch "Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht": Individuell ist besser
Seid Personen, nicht Fragmente! Jaron Lanier warnt vor antihumanen Denkweisen im Internet
Haben Sie schon mal einen Bäcker erlebt, der gratis warme Brötchen über die Theke reicht? Was viele Künstler, Journalisten und Musiker tun, entspringt einer Haltung, die Jaron Lanier in seinem Buch „Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht“ als „kybernetischen Totalitarismus“ oder „digitalen Maoismus“ bezeichnet. Die Wertschätzung des Individuums und seiner Werke befindet sich im freien Fall. Laut Lanier hat die libertäre open culture im Grunde nur einen Gewinner: die Werbung. Niemand würde es wagen, die Anzeigen auf einer Google-Seite einem Mashup zu unterziehen – sie scheinen unter Artenschutz zu stehen. Lanier gelangt zu einer ernüchternden Einsicht: „Wenn das Geld in Werbung fließt statt zu Musikern, Journalisten und Künstlern, geht es der betreffenden Gesellschaft mehr um Manipulation als um Wahrheit oder Schönheit.“
Was die Aussagen des gebürtigen New Yorkers so interessant macht, ist die Tatsache, dass sie nicht von einem Maschinenstürmer stammen, sondern von einem Informatiker, der seit Jahrzehnten Teil des Silicon Valley ist. „Ich liebe das Internet“, betont der 50-Jährige. Was ihn umtreibt, ist die „deutliche Tendenz zu antihumanen Denkweisen“, die er bei Software-Entwicklern und Nutzern diagnostiziert. Laniers erklärtes Ziel ist ein neuer digitaler Humanismus.
Die zentralen Fragen seines Buches lauten: Errichten wir das digitale Utopia für Maschinen oder Menschen? Dient das Internet uns oder umgekehrt? Bereits Marshall McLuhan wusste, dass Technologien Verlängerungen unserer selbst sind, dass wir uns zwangsläufig verändern, wenn wir Medien nutzen. Besonders fällt das bei den sozialen Netzwerken auf: 500 Millionen Menschen – mehr als sieben Prozent der Weltbevölkerung – passen sich der digitalen Oberfläche des Gemeinschaftsportals Facebook an. Wie in der binären Welt üblich, gibt es auch dort häufig nur die Wahl zwischen eins und null, ja oder nein. Ist man „Single“ oder „in einer Beziehung“, lautet eine der Schablonen, in die man seine Identität zwängt. Und was geschieht mit dem Begriff „Freundschaft“ in einer Welt, wo Nutzer hunderte virtueller „Freunde“ ansammeln?
Die fragmentierte, unpersönliche Kommunikation des Web 2.0 habe die zwischenmenschliche Interaktion entwertet, klagt Lanier und benennt den Schuldigen: Das Problem sei nicht der Nutzer, sondern die Software. Viele Programme seien einfach nicht menschengerecht, ein Umstand, der leider nicht zu einer Forderung nach besseren Designs führe, sondern zu einer Senkung des eigenen Anspruchs. Lanier benennt eine zunächst banale Tatsache: Das Netz konstruiert sich nicht selbst. Die Verwandlung des Lebens in Daten sei aber kein Naturgesetz. Laniers Appell an die Nutzer lautet: Seid Personen, keine Quelle für Fragmente!
Bewusst ist sich der Autor, der in den frühen achtziger Jahren zu den Pionieren auf dem Gebiet der „virtuellen Realität“ gehörte, dass seine Polemik gegen das computerzentrierte Denken auf Widerstand stoßen wird. Vor allem bei jenen, die in der Schwarmintelligenz einen Segen sehen. Bekanntestes Beispiel hierfür: das Online-Lexikon Wikipedia, dessen 16 Millionen Artikel in kollektiver Autorschaft verfasst werden. Lanier räumt ein, dass die freie Enzyklopädie vor allem in den Bereichen Popkultur und Naturwissenschaften glänze. In vielen anderen lasse sie hingegen Qualität vermissen. Die Vorstellung, das Kollektiv käme der Wahrheit am nächsten, führe zu einem Mangel an durchdachten Beiträgen und Argumenten. Eine weitere Gefahr: Viele Autoren in Blogs oder Foren versteckten sich hinter Pseudonymen. Anonymität verführe zu Mobbing, Beschimpfungen und diskriminierenden Äußerungen.
Lanier pflegt einen bisweilen sprunghaften Stil. Dies mag vor allem daher kommen, dass der Text auch Passagen aus seinen Kolumnen sowie manche seiner Beiträge für Onlinemagazine und wissenschaftliche Zeitschriften enthält. Seine Gedanken sind nicht immer neu, doch wurden sie selten so einleuchtend zugespitzt. Als Musiker beklagt er, dass die zeitgenössische Popmusik vor allem auf frühere Zeiten zurückgreife – als Rohstoff für eine gigantische Remixmaschine. Ob dadurch wirklich alle historischen Stilunterschiede eingeebnet werden, darüber lässt sich streiten. Das große Verdienst seines humanistischen Manifests besteht jedoch darin, das Augenmerk wieder von der anonymen Masse im Netz auf das Individuum gerichtet zu haben.
Jaron Lanier:
Gadget. Warum die
Zukunft uns noch braucht. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Suhrkamp, Berlin 2010.
247 Seiten, 19,90 €.
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