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Wer unterrichtet hier wen? Auch der Literaturlehrer (Fabrice Luchini, rechts) lernt von seinem Schüler Claude (Ernst Umhauer).
© Concorde Filmverleih

 François Ozon: Indiskrete Geschichten

Thriller, Komödie, Romanze: François Ozons neuer Film „In ihrem Haus“ ist eine meisterliche Reflexion des Erzählens.

„Es ist furchtbar“, seufzt der Lehrer Germain (Fabrice Luchini) beim Korrigieren von Schulaufsätzen. „Die schwächste Klasse meines Lebens.“ Seine Frau Jeanne (Kristin Scott Thomas) beschwichtigt: „Das hast du doch schon letztes und vorletztes Jahr gesagt.“ Es ist wohl wahr: Germain hat wenig Hoffnung in den Nachwuchs, das Schulsystem und die Zukunft der Zivilisation. Auch dass an seinem Arbeitsplatz, dem Lycée Gustave Flaubert, gerade Schuluniformen eingeführt wurden, hält er für kolossal überflüssig.

Mit dem Detail der Schuluniform führt François Ozons „In ihrem Haus“ gleich ein zentrales Motiv ein: die Überwindung von Klassengrenzen. Es taucht erneut auf, wenn Germain beim Korrigieren zwischen all den entmutigend schlechten Aufsätzen plötzlich auf einen Text stößt, in dem der unscheinbare Claude beschreibt, wie er seinem unbedarften Mitschüler Rapha Mathenachhilfe gibt – nicht aus Freundschaft, sondern, weil er besessen ist von dem Haus, in dem Rapha lebt. Monatelang habe er es vom Park aus beobachtet, sich in seiner Fantasie die Bewohner und Zimmer ausgemalt, schreibt Claude, und nun sei es ihm endlich gelungen, in diese fremde Welt einzudringen. Unter dem Vorwand, eine Cola zu holen, streift er durchs Haus und gleicht die Wirklichkeit mit seiner Vorstellung ab, als er den „Duft einer Frau aus der Mittelschicht“ wahrnimmt. Der Aufsatz endet mit einem aufreizenden „Fortsetzung folgt“.

Donnerwetter, diese Geschichte hat einiges zu bieten: Betrug, Geheimnis, Verführung, Verrat – unmöglich zu sagen, in welche Richtung sich die Handlung wohl entwickeln mag. Natürlich ist Germain empört über Claudes Täuschung und Indiskretion, aber als Lehrer sieht er auch das Talent, das gefördert werden muss. Und als Liebhaber von Literatur kann er nicht anders, als wissen zu wollen, wie es weitergeht. Also erklärt er Claude kurzerhand zu seinem persönlichen Projekt und hält nach der Schule Einzelsitzungen mit ihm ab, in denen er seinen Schützling mit Kritik und Literatur versorgt. Und Claude revanchiert sich mit neuen Kapiteln aus dem Rapha-Haus.

Die gelangweilteste Frau der Welt

Immer tiefer taucht Claude, der aus prekären Verhältnissen stammt, in die fremde heile Welt ein, von deren Durchschnittlichkeit er zugleich angezogen und abgestoßen zu sein scheint. Da ist Rapha, der so sein will wie sein Vater, der ebenfalls Rapha heißt und sich ausschließlich für China und Basketball interessiert. Und Raphas Mutter, die, wie Claude schreibt, gelangweilteste Frau der Welt, die sich den ganzen Tag mit Vorhängen beschäftigen kann. Episode für Episode entspinnt sich die Geschichte, doch Germain hat stets etwas auszusetzen: Mal sind ihm die Figuren satirisch überzeichnet, mal findet er die Szenen zu klischeehaft, dann wieder kauft er Claude überraschende Wendungen nicht ab.

Claude nimmt die Anregungen seines Mentors gewissenhaft auf, und die unter verschiedenen Vorzeichen erzählten Szenen haben den spielerischen Charme von Raymond Queneaus „Stilübungen“. Dass es keine neutralen, objektiven Geschichten gibt, weil jeder Autor zwangsläufig verändert, wovon er erzählt, ist dabei nur die eine Seite. Viel spannender ist, was große Metanarrationen von Scheherazade bis zu Tarsem Singhs tollem Film „The Fall“ thematisieren: dass sich die manipulative Macht des Erzählers auch auf den Leser und Zuhörer erstreckt.

Hat ein Süchtiger eine Wahl?

Er wisse nicht, ob er weiterschreiben könne, eröffnet Claude eines Tages dem Lehrer. Eine wichtige Mathearbeit stehe an, und wenn Rapha die verhaut, würden seine Eltern wohl auf einen professionellen Nachhilfelehrer zurückgreifen. Germain, längst süchtig nach Claudes Fortsetzungsroman, steht vor der Entscheidung, ob er seinen Arbeitsplatz riskieren und die Aufgaben aus den Arbeitsmaterialien seines Mathekollegen entwenden soll. Aber hat ein Süchtiger eine Wahl?

Ernst Umhauer, die Entdeckung dieses Films, spielt Claude mit einer unergründlichen Mischung aus Unschuld und Hinterlist, Impulsivität und Kalkül. Ob „In ihrem Haus“ tatsächlich ein Thriller ist, als der er vom Verleih beworben wird, ist aller Täuschung und Manipulation zum Trotz allerdings fraglich. François Ozon geht es in dieser meisterlichen Reflexion nicht um die Erzählung, sondern um das Erzählen, nicht um das Was, sondern das Wie. Tatsache ist, dass „In ihrem Haus“ jederzeit zu einem Thriller werden könnte – genauso wie zu einer Komödie, einem Melodram, einer homo- oder heterosexuellen Romanze.

Ab Donnerstag im Bundesplatz-Kino, Cinemaxx, Filmtheater am Friedrichshain, Kant, Kulturbrauerei, Passage; OmU: Cinema Paris, Hackesche Höfe

David Assmann

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