Kultur: In jeder Note ein Virus
Tradition und Gegenwart: Deborah Warners „Traviata“ bei den Wiener Festwochen.
„Die Zeit verging, und ich sagte zu, dann wieder ab und schließlich wieder zu.“ Klingt nicht so, als sei Deborah Warner Feuer und Flamme gewesen, diese „Traviata“ bei den Wiener Festwochen zu inszenieren. Zögern ist manchmal nicht das Schlechteste, sind doch gerade die größten Werke des Repertoires unter einem einschüchternden Berg an Deutungen und Bildern begraben. Irgendwann hat sich die britische Regisseurin dann zu der Produktion durchgerungen, „in die Tiefe“ wolle sie gehen, kündigte sie an, zur Archäologin werden, um die Geheimnisse des Werks unter der gesammelten Produktionsgeschichte zu entdecken.
Hoffnungen, dass sie die Richtige für den Job sei, waren angebracht. In England ist Warner zwar für eher brave Klassiker-Inszenierungen bekannt, aber in der Oper, zu der sie ähnlich wie Katie Mitchell oder Andrea Breth erst spät gefunden hat, eilt ihr durchaus der Ruf einer – zumindest gemäßigten – Bilderstürmerin voraus. Ihr „Don Giovanni“ in Glyndebourne soll massive Buhrufe beim champagnerschlürfenden Publikum provoziert haben, und Ö1-Radiomoderator Michael Bless hält es für angebracht, das Wiener Publikum in seiner Einführung zu warnen: Die Regisseurin habe das Stück in unsere Gegenwart verlegt, „weil auch Verdi die Traviata 1847 für seine Gegenwart geschrieben hat“.
Ein überflüssige Maßnahme. Warner bewegt sich ganz in den Schlingen der Tradition, ihre „Traviata“ ist eine Aneinanderreihung konventioneller Bilder, die man so oder ähnlich schon oft gesehen hat. Zu den Klängen des Vorspiels – eine in Musik gefasste Tuberkulose – wandelt Irina Lungu als Violetta Valery über die Bühne, die Krankheit zum Tode in der Brust, ihr Schicksal vor Augen. Sie beobachtet jemanden, der gerade gestorben ist, die Schwestern machen den Leichensack zu, das Bett wird schon desinfiziert.
Ist es sie selbst, die da davongetragen wird? Das erinnert doch sehr an Götz Friedrich, der Violetta gleich zu Beginn wiederauferstehen ließ, um alles Folgende in Rückblende zu betrachten. Beim Fest in der Pariser Wohnung schwenkt, wie überall auf der Welt, der Chor die Sektgläser, damit auch der Letzte begreift, dass hier gefeiert wird.
Im zweiten Akt, eine Phase flüchtigen Glücks für Violetta und Alfredo, spielen die beiden mit den Kissen wie einst Anna Netrebko und Rolando Villazón in Salzburg, dazu lodert ein Kaminfeuer, Vater Germont trägt selbstredend grauen Mantel und Schal (Kostüme: Rudy Sabounghi). Und der düstere Wald im Hintergrund ist nicht etwa Zeichenträger, Schicksalsverkünder, Symbol für den Kreislauf von Leben und Sterben. Nein, er soll schlicht darauf hinweisen, welche Jahreszeit gerade ist: Winter. Im zweiten Akt schneit es. Eine Kapitulation vor der Überlieferungsgeschichte, ein Bühnenbild (Jeremy Herbert), das man nur als nett bezeichnen kann.
Das ist vor allem deswegen bedauerlich, weil das Musikprogramm der Festwochen unter Stéphane Lissner sowieso extrem ausgedünnt ist, es besteht im Grunde nur aus dieser einen Premiere und aus einer Übernahme aus Mailand: „Quartett“ ist eine neue Oper von Luca Francesconi nach Heiner Müllers Bühnenfassung der „Gefährlichen Liebschaften“ von Choderlos de Laclos. Immerhin, es gibt Bezüge: Verdi und Francesconi, zwei italienische Komponisten, die Opern auf ausländische Vorlagen schreiben. Viel ist es trotzdem nicht. Jetzt die „Traviata“ zu bringen, ist auch keine besonders originelle Idee. Anlass ist natürlich das Verdi-Jahr 2013, zu dem die komplette „trilogia populare“ inszeniert sein soll, jenem Dreierschlag, mit dem Verdi zu Beginn der 1850er Jahre zu Weltruhm aufstieg. Intendant Luc Bondy hat 2011 eine launische Inszenierung von „Rigoletto“ abgeliefert, 2013 macht Philipp Stölzl „Il trovatore“, danach übergibt Bondy die Festwochen-Leitung an Markus Hinterhäuser – der jetzt ohne Shermin Langhoff als Stellvertreterin auskommen muss. Dass die Ballhaus-Naunynstraße-Chefin in Berlin bleibt, hat man in Wien mit Murren zur Kenntnis genommen. Der „Kurier“ fragt beleidigt: „Wozu brauchen die Festwochen überhaupt eine Vize-Intendantin?“
Drei Opern also – und drei verschiedene Regisseure. Zusammengehalten wird die Reihe vom 31-jährigen Dirigenten und Ex-Barenboim-Assistenten Omer Meir Wellber, der alle drei Teile dirigiert: Viril zwar, aber auch gleichmachend, mit wenig Gespür für das Flimmern der Partitur, für die Krankheit in jeder Note. Etwas wegnehmen, die Zwischenräume sprechen lassen, das ist Wellbers Sache nicht.
Ähnliches gilt für die Protagonisten. Alle besitzen große Stimmen. Irina Lungu (die die Rolle auch an der Deutschen Oper Berlin gesungen hat) einen sehr höhensicheren, buntmetallischen Sopran, Gabriele Viviani als Vater Germont einen Prachtbariton. Aber beide gestalten wenig, tragen ihre Stimmen vor sich her, bleiben ihren Figuren fremd. Am überzeugendsten ist noch Saimir Pirgu als Alfredo, dessen wohltuend geölter, lieblicher Tenor sich nach und nach einschärft und verdunkelt. Im allergrößten Zorn schlägt er die vermeintliche Kurtisane Violetta mit seinem Geld, prügelt die bereits am Boden Liegende regelrecht, stopft der Wehrlosen die Scheine zwischen die Beine. Regisseurin Deborah Warner mag keine neuen Bilder finden, ein Händchen für Personenführung hat sie sehr wohl. Und im dritten Akt gewinnt auch das Bühnenbild noch Qualität. Wieder eine Krankenhausszene, das ist nicht neu. Aber das Licht, die eingefrorenen Personen, machen daraus ein Tableau, auf dem sich einzig Violetta Valery noch bewegt, eine von Beginn an Verlorene, eine Ikone, eine Heilige. Das ist dann doch ein bisschen mehr als nur nett.
Udo Badelt
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